Besucherraum

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Während Harry seinen Albtraum erzählt, halte ich mir eine Hand vor den Mund und beiße mir unauffällig in die Handfläche, um mich vom Weinen abzuhalten. Sein Blick liegt die ganze Zeit auf mir und schließlich halte ich es nicht mehr aus, ihn anzusehen, weswegen ich ab diesem Punkt nur mehr auf die Tischplatte starre. Es verwundert mich, wie emotionslos alles mitteilen kann, ohne, dass auch nur einmal seine Stimme bricht.

„Und dann war May tot und ich bin aufgewacht.", schließt er seine Erzählung des Albtraums ab und ich sehe wieder zu ihm. Ich bemerke, dass eine einzelne Träne seine rechte Wange hinunterrollt, doch bevor sie seinen Unterkiefer erreichen kann, wischt er sie weg.

Harry wendet seinen Blick von mir ab und schaut zu Michael, der blass wie eine Leiche ist und sich mit beiden Händen an die Tischkante krallt. Gegenüber von ihm sitzt David, dem stumm zahlreiche Tränen aus den Augen fließt und eine Rotzglocke aus der Nase hängt.

„Denkst du noch immer, dass der Albtraum nicht so schlimm war?", spottet Harry und steht langsam auf. Er stützt sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab und lehnt sich nach vorne, noch immer zeigt sein Gesicht keinerlei Emotionen. Mit leiser Stimme fügt er hinzu: „Ich musste zusehen, wie meine Verlobte gefoltert wurde. Die Person, die ich am meisten liebe. Die Einzige, die mir auf dieser verdammten Welt noch bleibt, die ich nicht auch noch verlieren kann."

„Ich glaube, ich muss mich übergeben.", bringt David hervor und wenig später springt er von dem Stuhl und rennt zu dem Mistkübel, der sich direkt neben der Tür befindet. Ich sehe, wie Kendall auf den Jungen, der gerade seinen ganzen, viel zu überzuckerten Mageninhalt entleert, zukommt und ihm etwas zuflüstert.

Meine Aufmerksamkeit wird blitzschnell auf Michael gelenkt, der leise murmelt: „Psycho."

Ich schaue zu Harry, der auf den Jungen nicht reagiert und mich mit seinem Blick förmlich durchbohrt. Langsam rücke ich meinen Sessel nach hinten, um ungehindert aufstehen zu können. Mit schnellen Schritten gehe ich um den Tisch herum, um ihn in meine Arme zu nehmen. Sofort zieht er mich noch näher zu sich und haucht: „Ich dachte wirklich, dass ich verlieren würde."

„So schnell wirst du mich nicht los.", witzele ich halbherzig und entferne mich ein wenig von ihm, um ihm in die Augen schauen zu können. Sanft streiche ich Harry die Haare aus dem Gesicht und lege anschließend meine Lippen auf seine. Er reibt mit seinen Händen langsam über meinen Rücken und vertieft den Kuss noch mehr.

Schließlich löst Harry sich von mir und lehnt außer Atem seine Stirn auf meine. Kurz schließt er die Augen und zieht seine Mundwinkel leicht nach oben. „Dank dir geht es mir jetzt besser.", murmelt er und haucht einen sanften Kuss auf meine Lippen. Ich spüre, wie er die Hände von meinem Rücken nimmt und mir anschließend durch die Haare fährt.

„Bitte lasse mich nicht mehr alleine. Ich halte das sonst nicht aus.", setzt Harry fort und ich schüttele seufzend meinen Kopf. Ich treten einen Schritt zurück und versuche ihm mit ruhiger Stimme zu erklären: „Du musst trotzdem hier bleiben, ich lasse dich nicht mehr so schnell nach Hause."

Frustriert fährt er sich durch die Haare und zieht leicht an den Enden. Er beginnt, vor mir auf und ab zu gehen, ich kann sehen, dass er nicht mit solch einer Ablehnung gerechnet hat. Sein Blick fällt auf Michael, der ihn so anschaut, als könnte er irgendwie Harry tot umfallen lassen. „Psychos kommen nicht aus der Psychiatrie hinaus. Du gehörst hier hin.", spricht der Junge selbstgefällig.

Bevor ich reagieren kann, fliegt ein Stuhl durch das Zimmer, nur knapp an Michael vorbei, der einen schrillen Schrei ausstößt. „Du hast genau gar nichts zu sagen. Nur Personen, die schon all ihre Milchzähne verloren haben, haben das Recht, hier mitzureden.", zischt Harry und krallt seine Finger in die Tischkante. „Aber, wenn du willst, kann ich dir alle hinausboxen. Wobei ich mir dann nicht sicher bist, ob du dann noch überhaupt sprechen kannst."

Beruhigend lege ich eine Hand auf Harrys Schulter, woraufhin er zu mir wirbelt. „Wieso lässt du mich hier meine persönliche Hölle durchleben, wenn wir jetzt gerade zu Hause auf der Couch sitzen könnten und alte Musik hören könnten? Alles könnte wieder normal werden, wenn du bei mir bist.", redet er auf mich ein und packt mein Gesicht. Dieses schüttelt er leicht und setzt anschließend noch eindringlicher fort: „Du bringst mich innerlich um, wenn ich hier in dieser Klinik bleiben muss."

„Du brauchst professionelle Hilfe, die ich dir nicht geben kann. Damit es dir bald wieder bessergeht.", kontere ich und sehe zu Michael, der mit einem selbstgefälligen Grinsen noch immer auf dem Sessel sitzt und uns beobachtet. Ich weiß jetzt schon, dass ich irgendetwas für ihn tun werden muss, damit er seinen Eltern diesen Nachmittag verschweigt. Allein bei dem Gedanken daran wird mir schlecht, doch ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf Harry und füge hinzu: „Wenn du in keine einzige Therapiestunde gehst, nur, weil es dir angeblich bessergeht, wenn du bei mir bist, drehst du komplett durch."

Er tritt einen Schritt zurück und schreit: „Ich drehe durch, wenn ich nicht bei dir bin."

Ich zucke durch die plötzliche Lautstärke zusammen, doch versuche, weiterhin einen ruhigen Eindruck auf ihn zu machen. „Du bist in Scherben gelegen und hast gelacht. Du hast mir in den Finger und ins Handgelenk geschnitten, mir ein Messer an die Kehle gehalten. Du -", kontere ich, doch werde von ihm mittendrin unterbrochen: „Hör auf, mir das immer wieder zu erzählen! Ich will es nicht hören."

Kindisch hält Harry sich die Hände über seine Ohren und wendet sich von mir ab. Doch ich schreie ihn an: „Du verleugnest deinen psychischen Zustand, nur, damit du nicht hier bleiben musst!"

Mit schnellen Schritten nähert er sich einer Wand und beginnt, auf diese einzuschlagen. Immer wieder wiederholt er „Hör auf!" während die Mauer seine ganze Wut zu spüren bekommt.

Langsam weiche ich zurück und flüstere Michael zu: „Stehe auf, wir gehen jetzt." Er befolgt sofort meinen Befehl und ich greife nach meiner Tasche. Gemeinsam verlassen wir den Raum, im Gang treffen wir auf David und Kendall. Ich hebe der Jungen hoch und wische ihm über die nassen Wangen.

„Du solltest dir vielleicht Hilfe holen für Harry. Er dreht gerade durch.", teile ich Kendall mit und lasse anschließend den Raum, in dem sich mein Verlobter befindet, mit schnellen Schritten zurück.

Frozen / h.sWhere stories live. Discover now