Besuch 6

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„Wann kann ich wieder nach Hause?"

In seinen Augen spiegelt sich Hoffnung, die ich ihm sehr ungern zerstören will. Dennoch stelle ich ihm seufzend eine Gegenfrage: „Harry, denkst du nicht, dass es eine schlechte Idee ist, dass du so schnell wieder entlassen wirst"

Er wackelt in dem Sitz herum und lehnt sich nach hinten. Ungläubig schüttelt er den Kopf und murmelt: „Aber es geht mir doch gut." Wütend schlage ich mit einer Handfläche auf die Tischplatte und schreie: „Verdammt nochmal, es geht dir ganz und gar nicht gut!"

Durch die plötzliche Lautstärke zuckt Harry zusammen und reißt seine Augen erschrocken auf. Er öffnet seinen Mund, wahrscheinlich um mir weismachen zu wollen, dass alles ok ist. Langsam stehe ich auf und beuge mich über den Tisch. Kurz blicke ich zu den zwei Männern, die noch immer völlig gelassen an der Wand lehnen, bevor ich mich wieder Harry widme.

„Du hast mich zweimal mit einem beschissenen Messer geschnitten.", raune ich und hebe meine Hand, die mit einem Pflaster auf dem Zeigefinger und einem Verband auf dem Handgelenk geziert ist. Harry starrt entsetzt auf die bedeckten Wunden und setzt wieder zum Reden an, doch ich komme ihm schnell zuvor: „Du hast mir währenddessen erzählt, wie Gemma gefoltert wurde. Andauernd hast du von dem Mörder geredet, aber hast ihn immer nur als ‚er' bezeichnet."

Ich kann erkennen, wie sein Gesicht langsam zerfällt und Tränen sich in seinen Augen bilden. Doch ich kann nicht aufhören zu reden. In diesem Moment ist es mir egal, ob er damit konfrontiert werden will oder nicht. Ich kann mich nicht mehr stoppen.

„Du hast mich als Schlampe bezeichnet und wolltest entgegen meinem Willen mit mir schlafen. Ich bin kurz davor, das Ganze als versuchte Vergewaltigung zu bezeichnen. Aber dann würden sie dich wegsperren und dich als Psychopath bezeichnen.", setze ich fort und streiche ihm eine Strähne, die ihm in sein Gesicht gefallen ist, hinters Ohr. Sanft streichele ich über eine Wange und erkläre: „Ich liebe dich so sehr, dass ich trotz allem noch immer zu dir halte. Ist dir das überhaupt klar?"

Harry schüttelt seinen Kopf und schließt die Augen. Eine einzelne Träne entflieht ihm und rollt nun seine Wange hinunter, bis sie auf meine Hand trifft. Ich wischen den Tropfen weg und rede weiter: „Du hast mir mit einem Messer gedroht, hast mir die Klinge an die Kehle gehalten und warst kurz davor, mich zu töten. Denkst du noch immer, dass es dir gut geht?"

„Ich weiß nicht ...", murmelt Harry und wendet sein Geischt von mir ab. Er gleitet noch mehr den Sitz hinunter, bevor er sich wieder komplett aufrichtet. Sanft packe ich sein Kinn und drehe somit seinen Kopf, sodass er mich anschauen muss. Schmerz spiegelt sich in den Pupillen und der normalerweise weiße Teil ist gerötet. Zahlreiche Tränen befeuchten seine Wangen und verzweifelt haucht er: „Ich brauche dich."

„Du brauchst Hilfe!", rufe ich frustriert und fahre mir durch die Haare, ziehe an deren Enden. Ich entferne mich von dem Tisch und schiebe den Sessel hinein. Mit einer Hand stütze ich mich an der Lehne an, mit der anderen zeige ich auf Harry. „Du musst endlich der Polizei sagen, wer der Mörder ist. Sonst wirst du nie Ruhe erleben und mit dem Ganzen abschließen können."

Abrupt springt Harry auf und die zwei Männer hinter ihm nähern sich alarmiert. Er beugt sich über den Tisch und raunt: „Wie sollte ich jemals damit abschließen können, dass meine Familie direkt vor meinen Augen zerstückelt wurde? Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie vor mir und ich kann nichts dagegen machen. Diese verdammten Therapeuten interessieren sich einen Dreck um mich. Sie werden für diese Therapiestunden bezahlt und der Rest ist ihnen egal."

Verdutzt von seinem Geständnis schaue ich ihn an und bringe kein Wort aus meinem Mund. Harry richtet sich wieder auf und setzt fort: „Aber, wenn ich bei dir bin, lassen mich die bösen Erinnerungen in Ruhe. Du bringst Frieden in mich, wenn du mich berührst, fühlt es sich an, als wäre alles in Ordnung. Verstehst du nicht, dass ich dich brauche?"

Harry schüttelt seinen Kopf und weicht ein paar Schritte zurück. „Ist dir nicht aufgefallen, dass ich immer nur ausraste, wenn du davor nicht in meiner Nähe warst oder mir keine Aufmerksamkeit geschenkt hast?", fragt er mich und ich lasse mir seine Worte durch den Kopf gehen.

Es stimmt wirklich, denn vor seinem letzten Ausraster war ich den ganzen Vormittag arbeiten. Um genau zu sein, hat er mich seit der vorherigen Nacht nicht mehr gesehen, da er noch geschlafen hat, als ich das Haus verlassen habe. Auch die übrigen Male habe ich die Vorboten nicht erkannt oder nicht mitgekriegt. Schuldgefühle machen sich in mir breit, als die Erkenntnis sich in meinem Gehirn verankert.

„Du kannst mich nicht in eine Klinik einsperren, damit sich mein Zustand bessert, weil ich dich für meine Genesung brauche.", dringt seine Stimme zu mir durch. Ich stecke mir meine Haare hinter die Ohren und kontere: „Wenn deine sogenannte Genesung beinhaltet, dass du mich in Lebensgefahr bringst, dann will ich nicht, dass du so schnell wieder entlassen wirst."

Ich merke, wie Harrys ganzer Körper sich anspannt, bevor er schreit: „Ich würde dich nie umbringen und das weißt du auch!" Durch die Lautstärke zucke ich zusammen und trete einen Schritt zurück. Ich versuche, bei klaren Gedanken zu bleiben, indem ich das Thema wechsele: „Wieso erzählst du nicht, wer der Mörder ist? Laut deinen Aussagen hatte er keine Maske und du konntest ihn identifizieren."

„Weil ich es nicht kann.", wehrt Harry ab und wendet sich zu den zwei Männern. Frustriert hebe ich die Arme und rufe: „Würde das nicht etwas mehr Ruhe in dich bringen, wenn du wüsstest, dass er hinter Gittern sitzt?"

Doch er ignoriert meine Frage und flüstert den Männern etwas zu, woraufhin einer von ihnen mir mitteilt: „Die Besuchszeit ist vorbei." „Aber -", will ich argumentieren, doch Harry unterbricht mich forsch: „Ich will nicht mehr mit dir reden."

Fassungslos sehe ich zu, wie er an mir vorbei geführt wird und ich aufgefordert werde, ebenfalls den Raum zu verlassen. In Schweigen gehüllt gehen wir durch die Gänge zurück zu der Eingangshalle, wo Harry sich nicht von mir verabschiedet, sondern still zu dem Aufzug geht.

Voller Wut schreie ich ihm nach, bevor er komplett aus meiner Sicht verschwindet: „Du bist ein verdammter, feiger Bastard! Wegrennen bevor es brenzlig wird konntest du schon immer!"

Frozen / h.sWhere stories live. Discover now