Besuch 5

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Entsetzt starre ich ihn an. Harry wirkt glücklich, nebenbei auch etwas durchgeknallt, obwohl er sich selber verletzt hat und in Krankenabteil der Klinik liegt. Mich beängstigt sein Verhalten jetzt schon und ich bin nicht einmal fünf Minuten bei ihm. Dennoch schließe ich die Tür hinter mir, rede mir ein, dass er noch immer der Mann ist, den ich liebe und nicht irgendein Verrückter, auch, wenn er so wirkt.

Seine Augen verfolgen jede meiner Bewegungen und noch immer lächelt Harry. Ich greife einen Stuhl, der bei dem Tisch steht, und ziehe ich hinter mir her zu seinem Bett. Während ich ihn beobachte setze ich mich neben seine Schlafstätte. Harry streckt seinen Arm aus, um nach meiner Hand zu greifen. Jede Geste von ihm geschieht langsam, fast wie in Zeitlupe.

„Wieso hast du geweint? Mir geht es doch gut.", haucht er und drückt leicht seine Hand, die mit meiner verschränkt ist, zusammen. Mit all meiner Willenskraft versuche ich, die Tränen, die wieder meine Wange hinunter kullern wollen, wegzublinzeln.

Ich schlucke den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, hinunter und frage: „Was ist passiert?" „Das ist egal, Hauptsache, du bist bei mir.", lächelt Harry mich an und fügt hinzu: „Wo bleibt mein Kuss?"

Noch immer versuche ich zu verstehen, wieso er sich so verhält, doch ich kann es nicht. Kein Mensch, der eine gesunde Psyche hat, würde trotz Kratzern und einem Schädel-Hirn-Trauma so unbeschwert sein. Anscheinend hat ihm der Mord an seiner Familie mehr Schaden zugefügt, als ich gedacht habe.

Ich erzwinge mir ein Lächeln und beuge mich nach vor, um ihn sanft zu küssen. Gerade, als ich mich wieder von ihm lösen will, spüre ich seine freie Hand in seinen Haaren. Harry hält mich fest und bewegt seine Lippen gegen meine. Schockiert verharre ich in dieser Position und traue mich nicht, mich zu rühren. Er löst sich von mir und zieht seine Augenbrauen zusammen.

„Willst du mich nicht küssen?", fragt er, Traurigkeit schwingt in seiner Stimme mit. Noch einmal drücke ich kurz meine Lippen auf seine, um mich anschließend von ihm loszureißen. Meine Aktionen haben ihn anscheinend überrascht, denn sein Griff in meinen Haaren löst sich sofort. Ich schaue auf unsere Hände, die noch immer ineinander verschränkt sind und murmle: „Doch, aber nicht jetzt."

Harry setzt sich auf und rutscht näher zu mir. „Aber es ist doch alles gut.", argumentiert er, will mich wieder küssen, doch ich platziere meine freie Hand auf seiner Brust und drücke ihn sanft weg. Wieder forsche ich nach: „Was ist passiert?" Doch wie vorher spielt er es ab: „Nichts. Du bist ja jetzt bei mir."

„Wieso hast du dann Kratzer auf deinen Armen und ein Schädel-Hirn-Trauma?", kontere ich, dieses Mal ist mein Ton etwas strenger. Harry rutscht an die Bettkante und lässt seine Beine über diese hängen. Seine freie Hand streichelt nun über meine Wange und er schaut mich verträumt an. „Das habe ich nur getan, damit ich dich sehen kann."

Entsetzt springe ich vom Sessel auf und trete ein paar Schritte zurück. „Das kann doch nicht dein Ernst sein.", zische ich. Meine Haare werden von meinen Händen durchrauft, während ich ihn weiterhin anstarre. Harrys Blick wandert von dem Monitor neben ihm. „Du bleibst bei mir.", flüstert er, während er mit dem Kabel, das durch einen Klipp an seinem Finger befestigt ist, spielt.

„Natürlich werde ich dich nicht verlassen, aber ich denke, dass du schlafen solltest.", spreche ich so ruhig wie möglich. Plötzlich wird das Piepen des Monitors lauter und schneller, was mir anzeigt, dass sich Harrys Puls erhöht. Er steht abrupt auf und schreit: „Alle verlassen mich im Schlaf!"

Da ich keine Lust darauf habe, dass demnächst der Arzt und Krankenschwestern in das Zimmer stürmen, gehe ich mit schnellen Schritten auf Harry zu und lege meine Arme um ihn. Wie ein Mantra wiederhole ich: „Ich bin bei dir. Ich bin da. Ich bin bei dir. Ich bin da."

Seine Atmung verlangsamt sich und da mein Kopf genau auf seiner Brust, über seinem Herzen, liegt, kann ich auch spüren, dass sein Puls sich wieder beruhigt. Er schlingt nun ebenfalls seine Arme um mich und hält mich ganz fest. Zwischen uns würde kein einziges Blatt passen, egal, wie dünn es wäre. Zustimmend murmelt Harry: „Du bist da."

Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Umarmung verharren. Doch ich spüre, dass er das braucht. Körperliche Nähe von der einzigen Person, die er noch hat. Sanft wiege ich unsere Körper von einer Seite zu der Anderen und summe leise ein Lied. Meine linke Hand streicht fast wie automatisch über seinen Hinterkopf, während meine rechte auf seinem Rücken liegt. Harry verfestigt seinen Griff um meine Taille so, dass es schon schmerzt, aber ich sage nichts.

Er braucht das.

Schön langsam wird der Druck seiner Arme leichter und entferne mich etwas von ihm, sodass ich ihm in die Augen schauen kann. Über seine Wange streichelnd hauche ich: „Ich werde dich nicht verlassen."

Harry lächelt, dieses Mal nicht mehr wie ein Verrückter, sondern so, dass seine Grübchen zum Vorschein kommen und sich Lachfalten bei seinen Augen bilden. Um meine Aussage zu verdeutlichen, küsse ich ihn und versuche, ihm so viel Liebe und Zuneigung vermitteln, dass er sich geborgen fühlt. Seine Hände fahren über meinen ganzen Körper, als müsste er sich vergewissern, dass ich echt bin. Immer wieder streifen seine bandagierte Arme über meine nackte Haut und holen mich aus meiner Fantasie, in der alles ok ist, heraus.

Ich löse mich von ihm, aber bleibe dennoch so nah, dass unsere Stirnen berühren. „Bitte sag mir, was passiert ist.", flehe ich ihn leise an, in der Hoffnung, dass er ruhig bleibt. Harry atmet tief durch fragt: „Legst du dich zu mir?"

Seufzend nicke ich und wenige Momente später liegen wir nebeneinander, seine Brust dient mir als Kopfpolster. Er streicht mir sanft über meine Haare und platziert hin und wieder einen Kuss auf meinem Kopf. Überraschenderweise ertönt irgendwann seine Stimme und bricht somit das Schweigen:

„Ich hatte einen Albtraum und musste mich vergewissern, dass du mich in der Realität nicht auch noch verlässt."

Frozen / h.sWhere stories live. Discover now