Kapitel 80

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Unsanft wurde ich von meinem Wecker aus dem Land der Träume gerissen. Verfluchtes Ding! Konnte es mich nicht einmal im Leben ausschlafen lassen, anstatt mich daran zu erinnern, dass mir wieder einmal ein fürchterlicher Tag bevorstand? Andererseits wachte ich mit einem tollen Gefühl auf, denn ich konnte endlich wieder richtig durchatmen. Ich hob meine schweren Lider und schaltete meine Nachttischlampe ein, weil es noch stockdunkel draußen war. Im ersten Moment brannten meine Augen wie verrückt von der plötzlichen, ungewohnten Helligkeit. Nach und nach gewöhnten sie sich aber an die veränderten Sichtverhältnisse.

Mein Blick fiel auf die Berge von Taschentüchern, die überall in meinem Zimmer verteilt waren und die ich eigentlich mal wegräumen musste, weil das ziemlich unhygienisch war. Ich hätte zwar theoretisch genug Zeit dafür, aber dennoch konnte ich mich nicht dazu aufraffen. Im Moment brachte ich gar nichts mehr zustande.

Seit der Nacht an Anthonys Geburtstag hatte ich die Tage und Nächte nur noch in meinem Bett verbracht. Ich war nämlich krank.

Nachdem Anthony gegangen war und ich erstmal eine halbe Stunde auf dem Bürgersteig gesessen hatte, hatte ich mich dazu entschieden, dass ich auf gar keinen Fall nach Hause zurückgehen konnte. Nie wieder hatte ich an diesem Abend Anthony begegnen wollen. Also war ich die halbe Nacht durch Templeton gewandert und hatte mir den Arsch abgefroren, bis ich auf der Parkbank, auf der ich auch gesessen hatte, als mich der Anruf von Isaiah erreicht hatte, eingeschlafen war. Am nächsten Morgen wurde ich von einer freundlichen Passantin geweckt, die allem Anschein nach Mitleid mit mir gehabt hatte, weil es doch verdammt kalt war um nur mit Jeans, T-Shirt und Chucks bekleidet auf einer Parkbank zu schlafen.

Wohl oder übel hatte ich also zurück zu meiner ganz persönlichen Hölle gehen müssen und konnte von Glück sprechen, dass die Garage vom Audi leer war. Dafür waren Mum und Christian jedoch von ihrem Kurzurlaub zurückgekehrt und ich wusste zuerst nicht, was schlimmer war. Arschloch-Anthony oder meine Mum... Ich entschied mich aber dafür, dass niemand so schlimm sein konnte wie Arschloch-Anthony und lieferte mich ganz freiwillig meiner besorgten Mutter aus.

„Wo warst du denn nur die ganze Nacht, Schätzchen?", hatte sie gefragt. Sollte ich ihr von meinem neuen Freund namens „Parkbank" erzählen? Nein, besser nicht. Womöglich hätte sie mich umgebracht, wenn sie erfahren hätte, dass ich die ganze Nacht einsam und alleine draußen verbracht hatte.

Was ich allerdings nicht vor ihr verbergen konnte war die verlaufene Schminke und die verquollenen Augen. Sie kaufte mir die Geschichte, dass ich hingefallen war und ich vor Schmerzen geweint hatte, komischerweise bis heute nicht ab. Aber sie fragte auch nicht weiter nach, denn schließlich sah sie mich jetzt schon seit drei Monaten jeden Tag mit verquollenen Augen. Aber sie schien wohl instinktiv zu wissen, dass es besser so war, wenn sie nicht in der Wunde herumstocherte.

Jedenfalls hatte ich bereits zwei Tage nach der Party eine ziemlich heftige Erkältung bekommen, die sich schließlich zu einer Grippe entwickelt hatte schon drei Monate andauerte. Und diese Grippe hatte mich natürlich mit nichts verschont: Fieber, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen, Schnupfen, Husten und starke Müdigkeit. Mittlerweile war alles außer dem Schnupfen wieder weg, was ich der fürsorglichen Behandlung meiner Mum zu verdanken hatte. Sie hatte mir gar nicht erst erlaubt, das Bett zu verlassen, obwohl ich das sowieso nicht getan hätte, weil es mir auch ohne Erkältung beschissen ging. Außerdem hatte sie mir jeden Tag Tee und Suppe gekocht, mir sämtliche Medikamente eingeflößt und mich tausendmal einem Erkältungsbad unterzogen, dem ich aber auch nicht widerstehen konnte, weil ich es liebte, zu baden. Es schaffte zwar nicht, dass ich aufhörte, zu weinen, aber dennoch spendete es mir ein klein bisschen Trost in meiner Traurigkeit, die mittlerweile beinahe zur Gewohnheit geworden war. Es schien, als hätte ich vergessen wie es war, zu lächeln. Und ich würde wohl auch nicht so bald erfahren, wie das noch mal ging.

Capture my HeartWhere stories live. Discover now