1. Echo

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"Scheiße. Hast du die Banks gesehen? Wie fett die über den Sommer geworden ist."

"Ja, richtig schlimm. Die passt bestimmt nicht mehr durch die Türe des Klassenzimmers."

Die beiden lachten und drehten sich um, als das Mädchen an ihnen vorbei lief.

"Ja man! Erst vor einer Woche hab ich sie flachgelegt.", lachte ein Junge in meinem Alter und klatschte begeistert in die Hände seiner Kumpels ein.

"Sie ist schon heiß. Kann ich sie auch mal haben?"

Ich lief weiter den Flur entlang.

"Hast du dir die Algebraformel nochmal angeschaut? Ich hab es total vergessen."

"Klar. Komm mit. Ich zeig dir nochmal alles."

Ich schaute die Jüngeren nicht an und lief weiter. Ein blondes großes Mädchen stieß an meiner Schulter an und stoppte mich leicht in meinem laufen. Flüchtig drehte ich mich zu ihr um. Auch sie drehte sich um und schaute mich verwirrt an, ehe sie mit ihrer braunhaarigen Freundin weiterlief.

"Kennst du die?"

"Nein. Noch nie gesehen."

"Sie muss neu sein."

Ganz im Gegenteil. Ich war nicht neu. Ich ging schon seit Jahren mit diesen Leuten auf eine Schule. Ich war nicht beliebt, aber man sollte doch wissen, mit wem man Jahrelang auf eine Schule ging.

"Scheiße sieht sie ja nicht mal aus."

"Los, hol sie dir."

Mittlerweile war ich an meinem Spint angekommen. Nachdem ich meinen Zahlencode vom letzten Jahr eingegeben hatte, öffnete ich das Fach und verstaute meine Bücher darin. Nur mein Biologiebuch, meinen Block und ein Mäppchen blieben in meiner Tasche. Als ich das Fach wieder zumachte, tippte mich jemand auf der Schulter an. Vermutlich ein jüngerer Schüler, der nicht wusste wo er hin musste. Langsam drehte ich mich um und musste zu bedauern feststellen, dass es ein älterer Junge war. Er war im Senioryear, genau wie ich. Aber ich konnte mich nicht an seinen Namen erinnern. Ich nickte ihm leicht zu und wollte mich an ihm vorbeidrücken. Da er nichts sagte ging ich davon aus, dass er es nur zum Spaß machte und um zu sehen wer ich war. Er hielt mich jedoch auf, indem er meinen Arm leicht packte und mich nicht weiter gehen ließ. Leicht wütend, da er mich anpackte, schlug ich ihm mit meiner Hand auf seine. Abwehrend ging er einen Schritt zurück. "Sorry. Ich wollte dir nicht zu nahe kommen.", sagte er freundlich.

Ich antwortete nichts.

"Ähm. Ich bin Drew. Drew Barrymore." Er hielt mir seine Hand entgegen. Ich ignorierte ihn jedoch, weshalb er sie wieder fallen ließ. Nervös kratzte er sich im Nacken. "Und du bist?"

Ich schaute ihn weiterhin nur an. Ich war seit 5 Jahren in einer Stufe mit ihm und jetzt erkannte er mich nicht einmal. Lag vielleicht daran, dass ich mir meine Haare gefärbt hatte. Sie waren jetzt eine Mischung aus Blond, Orange und Rot. Also nicht alle Farben einzeln, eher als wären diese Töne in einen Farbtopf gefallen und dann auf meine Haare geschmiert worden. Früher war ich ganz blond gewesen.

"Ähm. Verstehst du mich überhaupt?", fragte er nun und runzelte leicht seine Stirn. Ich schnaufte auf. Wenn ich ihn nicht verstehen würde, wäre ich sicher nicht hier auf der Schule.

"Wies aussieht, verstehst du mich.", schlussfolgerte er mein Schnaufen.

Ich nickte dieses mal und blieb abwartend vor ihm stehen. Was wollte er?

"Sprichst du?"

Ich schüttelte den Kopf. Nein.

"Warte. Bist du nicht die Kleine, die seit 10 Jahren oder so nicht ein Wort gesagt hat?", redete er weiter und freute sich, dass er erkannte wer vor ihm stand.

Ich nickte. Wer sonst, Dummkopf.

"Ah dann bist du Echo, richtig?" Ich nickte. Wenigstens erinnerte er sich an meinen Namen. "Du siehst anders aus. Irgendwie besser." Er fuhr kurz durch meine Haare.

Okay, dass wird mir zu viel. Erneut schlug ich verärgert seine Hand weg und lief dann davon. Arschloch. Was sollte das bitte? Er wusste genau wer ich war und dass ich nichts sprach. Ich konnte es einfach nicht glauben. Sie machten sich immer wieder lustig über mich. Nur weil ich nichts sagte. Aber was soll ich auch sagen? Ich hatte schließlich aufgehört zu reden, da mir niemand zuhörte und nicht weil ich gerade mal Lust dazu hatte. Früher dachte ich noch, dass meine Eltern es aus Spaß machten. Aus Spaß nicht mehr mit mir redeten. Erst als ich 7 wurde, war mir bewusst geworden, dass sie einfach keine Lust und Zeit für ihre Tochter hatten. Also beschloss ich ihr Spiel mitzuspielen. Ab da redete ich nicht mehr. Kein einziges Wort kam mir über die Lippen. Als sie nach einem Jahr schließlich merkten, dass ich nicht mehr sprechen wollte, schickten sie mich zu einem Psychater. Natürlich kamen sie nicht mit einer stummen Tochter klar. Obwohl ich nicht einmal stumm war. Nicht einmal versucht hatten sie, mich wieder zum sprechen zu bringen. Daraus schloss ich, dass sie sich schlicht und einfach nicht für mich interessierten. Mit der Zeit haben sie sich jedoch damit abgefunden, dass ich nicht mehr sprechen wollte und ließen mich in Ruhe. Ich wusste nicht einmal, ob sie mich damals vor 17 Jahren überhaupt wollten, oder ob ich ein Unfall war.

Langsam lief ich mit meiner Tasche in mein altes Biologieklassenzimmer und setzte mich auf den Platz, den ich auch letztes Jahr hatte. Dann packte ich meine Sachen aus und beobachtete die Schüler. Lachend liefen die meisten in den Saal und setzten sich auf ihre Plätze. Keiner hatte sich neben mich gesetzt, da mich keiner wirklich kannte. Das hieß dann wohl, dass ich keine Freunde hatte. Im großen und ganzen war ich alleine. Schon immer musste ich mich damit abfinden, dass niemand mit jemandem befreundet sein möchte, der nicht sprach. Sie sahen mich als eine Behinderte an. Glaubte ich zumindest. Die meisten wussten nicht einmal, dass ich in Wirklichkeit sprechen konnte. Konnte ich es überhaupt noch? Denn vor kurzem hatte ich im Internet gelesen, dass wenn Menschen über Jahre hinweg nicht sprechen das Reden vielleicht verlernen können. Aber es ist nur eine Vermutung gewesen und kein richtiges Resultat. Ausprobiert, ob ich noch sprechen konnte hatte ich nicht. Es war mir egal, da wenn ich wieder sprechen würde, mir sowieso niemand zuhören wollte. Aber zusammengefasst, die Schüler und Lehrer hatten sich damit abgefunden, dass ich nicht sprach. Um ehrlich zu sein, wusste ich selbst nicht mehr, wie sich meine Stimme überhaupt anhörte. Ob sie hoch oder tief war oder ob ich Dialekt sprechen würde. Ich wusste es nicht. Und würde es vermutlich auch nie erfahren.

"Guten Morgen meine Schüler. Es freut mich zu sehen, dass ihr alle fit und munter, warte, Eldon hast du dir dein Bein gebrochen oder ist das ein Witz?", unterbrach sich meine Lehrerin selbst und schaute meinen Klassenkameraden sprachlos an.

Nachdem er ihr ausführlich erklärte, wie er sich beim Felsenspringen den Fuß gebrochen hatte, begann sie mit dem Unterricht.

Es war uninteressant. Wie immer. Nach weiteren Unterrichtsstunden, lief ich alleine in die Cafeteria und bestellte mir etwas zum essen. Was bedeutete, dass ich stumm auf das Essen meiner Wahl zeigte und dann anschließend meinen Daumen nach oben streckte, falls alles passte. Wie immer lief ich danach mit meinem Tablett nach draußen und setzte mich auf meinen Stammplatz. Es war ein kleiner Tisch auf einer großen Wiese hinter dem Schulgebäude.

■27.05.16■

SilenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt