15. Vers (Elisabeth)

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„Eine mittelschwere Katastrophe war das", klärte uns Frau Koch auf, während sie den Raum auf und ab lief.

Ausnahmsweise waren meine Gedanken ganz und gar präsent. Meine Hände wurden eiskalt. Ich wollte wegrennen.

Nur weg, nicht die Klausur wiederhaben. Keine null Punkte kassieren, nicht mal eine negative Note kriegen.

Aber ich wusste, dass es darauf hinauslaufen würde.

Ich hatte schon so viele schlechte Noten geschrieben, eigentlich hätte ich mich langsam daran gewöhnt haben, mich damit abfinden müssen, bloß hatte ich das nicht. Ich würde es wohl nie.

Frau Koch kam der glorreiche Gedanke, die Klausur vorab an der Tafel zu besprechen, dann mit dem Notendurchschnitt rauszurücken und erst danach mit den Klausuren. Es entsprach der reinsten Folter, aber es entsprach doch immer der reinsten Folter.

Ich wollte mich ablenken, hoffte inständig auf einen neuen Vers.

Er war da. Ich atmete langsam aus.

Die Vergangenheit ist Schuld, las ich meinen Vers erneut.

die Umstände sind Schuld, las ich nun auch den neuen.

„...Elisabeth!", sagte Frau Koch.

Eigentlich war es klar. Ich träumte und genau dann nahm Frau Koch mich dran.

„W-wie bitte?", fragte ich.

Frau Koch wiederholte ihre Frage, gab Wörter von sich, die in meinen Ohren keinen Sinn ergaben. Es waren die Wörter, die ich schon in der Klausur nicht verstanden hatte.

„Wie sieht es aus?", fragte Frau Koch. „Haben Sie eine Idee?"

„Ich", stockte ich, brach ab und fing von vorne an: „Nein, habe ich nicht." Ich ließ die Schultern hängen und fühlte mich noch schlechter als zuvor.

Frau Koch nickte langsam, das war ihre knappe Antwort auf mein Versagen, dann nahm sie jemand anderen dran.

***

Sie ließ die Klausuren von zwei Schülern der ersten Reihe austeilen, der eine Schüler war Tobias, mit dem ich vor vielen Wochen mikroskopiert hatte und der mich beim Tafeldienst und Kreideholen im Stich gelassen hatte.

Er war es auch, der mir nun meine Klausur reichte. Ein „Danke" kam mir nicht über die Lippen und ihm kam kein „Man, das ist echt übel" über die Lippen. Er warf mir nur einen mitleidigen Blick zu.

Ich starrte die Note lange an, ehe ich sie begriff und selbst dann wollte und konnte ich sie nicht wahrhaben.

Zwei Punkte. Das war mehr, als ich erwartet hätte, aber dennoch schlecht genug, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildete und sich mein Magen zusammenzog.

Die Notenpunkte schwarz (oder eher in rotem Korrekturstift) auf weiß waren das Schlimmste.

Es war wie mit Gespenstern; so lange man sie bloß fürchtete, konnte man ihre Existenz verleugnen. Aber sobald man eins sah, starb die Verleugnung und zurück blieb die furchtbare Gewissheit.

Schlechte Metapher, aber zu einer besseren war ich heute nicht im Stande. Außerdem kam sie ungefähr hin, bloß dass Gespenster eben nicht wirklich existierten.

Oder?

Die schlechten Noten waren meine Gespenster.

Zwei Punkte, es war eine glatte Fünf. Das war zu schlecht, ich war zu schlecht.

Es waren ja nicht nur Noten, ich war für alles zu schlecht. Immer diese glücklichen Paare auf dem Schulhof - ich hatte noch nie einen Freund gehabt. Ich war also auch für die Liebe zu schlecht.

Ich war unendlich ratlos. Wofür war ich hier? Wofür kämpfte ich?

Ich wusste nicht, was ich mir von der Zukunft erhoffen sollte. Etwas weniger Einsamkeit wäre schön, sicher, doch reichte das Kompensieren dieses Problems aus, damit ich wieder Freude am Leben hatte, damit ich ein erfülltes Leben führen konnte? Vielleicht.

Frau Kochs Stimme hallte wieder durch den Raum. Die Klausur würde nicht nachgeschrieben werden, dafür war sie gerade gut genug, verkündete sie in etwa.

Warum konnte ich nicht einfach gute Noten schreiben, warum konnte ich nicht einfach intelligent sein?

Andere Menschen schafften es auch, intelligent zu sein. Viele Menschen waren intelligent. Umgeben von ihnen kam ich mir vor wie ein Außenseiter, wobei ich eigentlich auch so ein Außenseiter war. Ich war einfach einer in allen Hinsichten. Sozusagen ein totaler Griff ins Klo vom Erschaffer, ob es Gott nun gab oder nicht.

Nicht intelligent genug.

Nicht schön genug.

Nicht selbstbewusst genug.

Nicht talentiert genug.

Nicht gut genug.

Nicht genug. Ich war noch nie für irgendjemanden genug. Die Paare auf dem Schulhof machten es einem nicht gerade leicht, das zu vergessen.

Es war nicht so, dass ich häufig verliebt war - wen sollte ich schon lieben, es gab niemanden, der so war wie ich. Höchstens der Linkshänder, doch dem war ich nie begegnet.

Ich wollte endlich die Liebe erfahren. Wollte einen Freund, der mich akzeptierte, wie ich war, der mich verstand und mit dem ich Dinge gemeinsam hatte. Der ehrlich war und mit dem ich reden könnte, ohne dass unangenehme Pausen entstanden, dass nur welche entstanden, die angenehm waren. Dass Schweigen immer nur angenehm war.

Ich wollte wissen, wie es ist, geküsst zu werden.

Ich wollte nicht nur Liebe, ich wollte auch Zukunft. Ohne Einsamkeit und mit einem Beruf, mit dem ich etwas - jemanden - erreichen konnte. Ich wollte ein Leben, in dem ich nicht nutzlos war, sondern gebraucht wurde, eines, in dem ich etwas wert war, in dem ich anderen helfen konnte.

Dieses Leben existierte nicht.

Aber du könntest es selbst erschaffen, summte leise ein Stimmchen in meinem Kopf. Ein kluges Stimmchen, doch niemand hörte auf es. Traurigkeit und Probleme waren leichter als der Kampf um Glück und Lösungen, um Liebe und Zukunft.

***

Ich las die neueste Strophe, die bisher aus nur zwei Versen bestand, ich las sie wieder und wieder und schrieb schließlich mit meinem bewährten roten CD-Marker:

die Anderen sind Schuld

Weil ich nur zu gern auch den Anderen Schuld an meiner Einsamkeit zuwies. Weil sie nicht so waren wie ich oder weil sie mich nicht akzeptierten, manchmal auch beides.

Jeder hatte etwas beizutragen.

Die Anderen waren Schuld, die Vergangenheit war Schuld, die Umstände waren Schuld.

Alle waren Schuld. Die Welt war Schuld.

Ich sah aus dem Fenster. Die Sonne schien. Es hatte schon viele schöne und warme Tage dergleichen diesen Frühling gegeben, doch selbst das Wetter hob meine Laune in letzter Zeit nur noch bedingt. Die Tage wurden immer drückender.

Wie lange ließ mir die Einsamkeit noch Luft zum Atmen?    

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt