11. Vers (Elisabeth)

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Nach fünf Wochen hatte ich das Gedicht so gut wie vergessen und glaubte kaum noch daran, heute einen neuen Vers lesen zu können.

Doch ich hatte mich getäuscht.

Ich suche nach einem Ausweg

Und finde doch keinen

Hinzu fügte ich: schon gar nicht meinen

Niedergeschlagen saß ich danach immer noch im Unterricht. Der Frühling hatte sich wieder verzogen. Er hatte einen Rückzieher gemacht, der mich nicht gerade motivierte.

Ich starrte einfach nur nach vorne, wo Frau Koch schon seit zwanzig Minuten einen ihrer berühmt berüchtigten Monologe hielt.

Ich verstand immer noch kein Wort, auch wenn ich hin und wieder eine helle Minute hatte, wo es mir gelang, ihre Worte zumindest aufzunehmen und zu verarbeiten. Das nützte mir lediglich nicht viel, die Lücken waren schon zu groß.

Nun stöhnte Frau Koch auf. „Kreide!", rief sie und schlug im Klassenbuch den Tafeldienst nach.

Wer hatte eigentlich Tafeldienst, müsste ich nicht bald wieder an der Reihe...?

„...Tobias Ziegler und Elisabeth August!"

Bitte nicht. Ich sah mich nach Tobias um, doch dummerweise war der nicht da.

Ich wünschte mir, am Stuhl festzukleben, bloß um hier sitzen bleiben zu können und weiterhin vorzugeben, Frau Kochs monotonem Geschwätz zuzuhören.

Stattdessen stand ich aber auf. Ich hatte das Gefühl, dass mich alle anstarrten, dabei starrte mich nicht einmal die Hälfte an. „Ich hole welche", sagte ich und verließ zügig den Raum.

Als ich durch die Schule lief, fürchtete ich mich permanent davor, jemandem zu begegnen, den ich kannte. Was, wenn ein Lehrer an mir vorbeikam, der mich unterrichtete? Musste ich ihn oder sie dann grüßen? Was, wenn ich keinen Ton herausbekam?

Mit gesenktem Kopf trottete ich zum Sekretariat, immer in der Hoffnung, mithilfe dieser Haltung wenigstens so tun zu können, als würde ich den Lehrer nicht bemerken, der meinen Weg kreuzte. Glücklicherweise kam ich aber an keinem vorbei und auch sonst begegnete mir keine Menschenseele, alle schienen brav in ihrem Unterricht zu sitzen.

Ich atmete auf, als ich mir drei weiße Kreidestücke geschnappt hatte und den Rückweg antreten konnte.

Ich hatte es geschafft. Und es war nichts passiert, rein gar nichts.

Angsthase, so nannte ich mich in Gedanken.

Warum war ich immer so schreckhaft und rechnete gleich mit dem Schlimmsten?

Und mal ehrlich: Was konnte schon Großartiges passieren, wenn man Kreide holen ging?

Das Schicksal antwortete mir prompt auf die letzte Frage.

Ein paar Schritte setzte ich meinen Weg noch unbeirrt fort. Ich steuerte die Treppe an, doch ehe ich sie ganz erreicht hatte, kam eine Person hinauf gesprintet, groß und schmal, und rammte mich so heftig, dass mir die Kreide aus der Hand fiel.

Für einen Moment war ich wie gelähmt, mein Gehirn war noch immer damit beschäftigt, die Situation zu verarbeiten. Ich starrte auf den Boden, der nun von vielen, vielen kleinen Kreidebrocken übersät war.

Im nächsten Augenblick war ich versucht, mich lauthals darüber aufzuregen, doch ich blieb still. Das war es nicht wert. Es war doch nur Kreide.

Kreide, die sich allerdings sehr schwer wieder aufheben ließ, wie ich feststellen musste, als ich mich hinkniete und an die Arbeit machte. Sekundenbruchteile später kam mir allerdings der Gedanke, wie lächerlich ich dabei aussehen musste, sodass mir heiß wurde.

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt