1. Vers (Elisabeth)

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„Kann... Ich... Mich... Dahin... Setzen?" Die Stimme gesenkt, die Wörter abgehackt, Wort für Wort leiser werdend und die nagende Nervosität stets an meiner Seite.

Der leere Platz in der vorletzten Reihe des Biologieraums würde meine Rettung sein.

Meine Rettung vor der Einsamkeit.

Wie hätte ich denn ahnen können, dass es der Platz dahinter, der Platz in der letzten Reihe sein würde, der mich schlussendlich von der Einsamkeit befreien würde?

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nur eines. Ich wollte nicht alleine sitzen. Und so hatte ich beschlossen, das zweite Halbjahr desselben Schuljahrs mit ein bisschen Mut zu beginnen. Zumindest mit genügend Mut, um einen Satz gegenüber einer Mitschülerin hervorzubringen.

Ich schämte mich dafür, nicht normal sprechen zu können. Nicht einmal diese kurze Frage hatte ich ordentlich stellen können. Mit Wörtern einen Marathon laufen, das konnte ich gut. Doch der Versuch, in einer angemessenen Geschwindigkeit zu sprechen, endete immer gleich: In ein paar abgehackten Wörtern.

Wäre ich diese Mitschülerin gewesen, Karin hieß sie, ich würde so einen Freak nicht neben mir Platz nehmen lassen.

Und Karin nahm sich den unausgesprochenen Rat zu Herzen. „Entschuldige, aber hier sitzt Toni, sobald sie wieder gesund ist." Sie sah mich etwas mitleidig an, doch stellte schließlich ihre Tasche auf dem freien Platz rechts von sich ab. In der Viererreihe saßen links von ihr zwei weitere Mädchen, Samantha und Leonie, doch die beiden waren in ein Gespräch vertieft, das ihnen nicht gestattete, mich wahrzunehmen. Sie nahmen mich nie wahr.

Auch wenn ich mit keiner anderen Reaktion gerechnet hatte, tat es weh, abgewiesen zu werden. Es gab Menschen, die nach einer Zeit abhärteten und Menschen, die Mal um Mal zerbrachen. Es war nicht schwer zu erraten, welcher Sorte ich angehörte.

„Schon gut", murmelte ich und spürte, wie meine Nase zu kribbeln begann und sich salziges Wasser in meinen Augen ansammelte. Ich drehte ich mich schnell weg von Karin.

Die Tränen blinzelte ich fort, während ich auf den Einzeltisch dahinter zusteuerte, der die letzte Reihe auf der linken Seite des Fachraums bildete.

Eigentlich passte er nicht in diesen Raum. Er war kürzer als jede andere Tischreihe, er war uralt und er war mit etlichen Wörtern bekritzelt und geschändet.

Er war ein Außenseiter, aber das war ich auch.

Ich setzte mich, stellte den Rucksack neben mir ab, nahm meine Unterlagen heraus und rückte die rote Brille auf meiner Nase zurecht. Dann richtete ich meinen Blick nach vorne.

„Guten Morgen, Schüler!", grüßte Frau Koch in gewohnt strengem Ton. Sogleich erhob sich die Klasse und grüßte in gewohnt griesgrämigem Ton zurück.

Dass der Morgen nicht gut war und durch ihren Unterricht auch nicht besser werden würde, das verschwieg sie uns jedes Mal.

Es würde noch eine entsetzlich lange Zeit dauern, bis Stunde drei und vier des Schultags überstanden waren. Zumindest ließ es Frau Koch einem so vorkommen.

Das neue Halbjahr hatte ganz abscheulich angefangen. Im Klassenraum saß ich allein, hier in Bio saß ich allein und an den anderen Sitzordnungen würde sich sowieso nichts ändern.

Die Einsamkeit fraß an mir und ich wusste nicht, wie lange ich noch gegen sie bestehen konnte.

An der Tafel machte Frau Koch sogleich mit dem altbekannten Thema weiter. Genau dort, wo sie letztes Halbjahr aufgehört hatte. Dass es um Zellen ging, das wusste ich, doch mit den Fachbegriffen, mit denen sie mittlerweile nur so um sich warf, konnte ich nichts anfangen. Ich hatte schon vor einer ganzen Weile den Faden verloren.

Die elfte Klasse war hart. Ob ich die bestehen würde, das wusste ich auch nicht so genau.

Meine Konzentration verabschiedete sich langsam, sie tanzte mit den Schneeflocken vor dem Fenster davon. Die Natur war so schön, im Winter ganz besonders.

Eine ganze Weile starrte ich nur aus dem Fenster, versuchte, eine einzige Schneeflocke so lange wie möglich mit den Augen zu verfolgen, versuchte dann, mich im unendlichen Himmel zu verlieren. Sobald die Schule rum war, würde ich mit dem Zug nach Hause fahren, meine Schultasche abstellen und in den Wald gehen. Ich mochte es so sehr, wie sich der Schnee in den Bäumen absetzte, wie er die gesamte Natur mit seinen wunderschönen frostigen Gewändern einkleidete...

„...Seite 99."

Schließlich fand ich mich im Unterricht wieder. Die Bücher wurden in die Hand genommen und die Seiten umgeblättert, auf der Suche nach der Neunundneunzigsten.

Ich tat es den anderen gleich. Eine gruselig lange Überschrift sprang mir auf der richtigen Seite entgegen. Ich überflog die ersten paar Zeilen und verstand kein Wort.

„Lesen Sie sich den Text in Ruhe durch", ordnete Frau Koch an.

Ich machte mir nicht die Mühe. Ich würde sowieso nicht verstehen, worum es ging. Stattdessen widmete ich mich der viel interessanteren Aufgabe und studierte aufmerksam die Wörter, Sätze und Symbole, die auf meinem Pult in all den Jahren verewigt worden waren.

Abgesehen von einigen Kritzeleien, etlichen Namen von Bands und von Schimpfwörtern, die für mich nur teilweise einen Sinn ergaben, standen da auch Sprüche wie „Bio stinkt" oder „Schlimmstes Fach des Tages" oder der Klassiker: „Ich will nach Hause".

Großartig, jetzt fühlte ich mich gleich viel besser. Zumindest fühlte ich mich ein bisschen verstanden.

Ich fragte mich, wie viele von meinen Vorgängern das Fach hassten, weil es ihnen nicht lag und wie viele es hassten, weil sie dazu verdammt waren, einsam und verlassen in der allerletzten Reihe zu sitzen.

Ich hasste Bio aus beiden Gründen. Oder vielleicht lag es mir auch einfach deswegen nicht, weil ich keinen Sitznachbarn hatte, der mir helfen konnte, es zu verstehen oder mich zumindest daran hindern konnte, ständig mit meinen Gedanken abzudriften.

Ich hasste Bio. Ich hasste Politik und Mathe, Physik und Chemie. Ich hasste allgemein Schule.

Ich hasste es, wenn Menschen über meine hohe Sprechgeschwindigkeit lachten oder herzogen. Ich hasste diejenigen, die mich dazu gebracht hatten, mehr oder weniger zu verstummen, kaum noch zu reden, meine Sätze zu kürzen und die wenigen Wörter abzuhacken.

Aber was ich am meisten hasste, war die Einsamkeit.

Und eigentlich hasste ich noch etwas anderes. Den Hass. Ich konnte ihn zwar nicht definieren, aber er begleitete mich. Ich hasste den Hass, doch wie es mir schien, so liebte er mich dafür umso mehr. War das nicht paradox?

Vielleicht liebte der Hass tatsächlich, doch ich liebte nicht.

Und schon gar nicht liebte ich die Einsamkeit, die jeden meiner Tage regierte, meine Flügel zerbrach und mich zu Boden stieß. Ich war so schwach. Viel zu schwach, um Freunde zu finden, um der Einsamkeit zu entkommen.

Irgendwann griff ich in mein Mäppchen, zog einen Stift heraus, der witztigerweise meine Lieblingsfarbe hatte, und schrieb mit dem roten CD-Marker einen eigenen Satz auf den Tisch.

Ich schrieb das erste auf, das mir durch den Kopf ging. Dass ich mich zusätzlich wieder auf die Schneeflocken besann, half mir nicht gerade, einen ordentlichen Satz zu schreiben.

Schließlich stand er da. Ein „sind" hatte ich ganz vergessen. Erst ärgerte ich mich drüber, dann erkannte ich die unvollkommene Schönheit der geschriebenen Worte und sah keinen Grund mehr dazu, es zu korrigieren.

Die Tage voller Einsamkeit

Irgendwie poetisch, oder?    

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt