5. Vers (Elisabeth)

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Umschließender Reim.

Umfassender Reim.

...Umarmender Reim. Und ehrlich gesagt, es fühlte sich auch wie eine Umarmung an.

Es war die Umarmung der Einsamen.

„Ich setz mich zu dir, wenn's recht ist."

Die Stimme des Jungen riss mich aus meinen Gedanken, doch um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich wieder in der Realität angekommen war, wedelte er wie ein Grundschüler mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. „Hallo? Jemand Zuhause?"

Ich sah zu ihm auf. Der blöde Pony war inzwischen an einigen Stellen (symmetrisches Schneiden war nicht mein Ding) so lang geworden, dass er mir andauernd in die Brille fiel und ich ihn nun vergebens in Form zu bringen versuchte, um Tobias' Gesicht sehen zu können.

„Also ich setze mich jetzt hier hin", erklärte er und setzte sich auf den Stuhl, den er an der anderen Seite des Tisches platziert hatte und mir somit gegenüber saß.

„J-ja", stotterte ich, immer noch nicht ganz verstehend, was das hier werden sollte.

Oder warum sich plötzlich mehrere Schüler erhoben und aus dem Raum spazierten.

„Du träumst immer, oder?", kam es von Tobias.

„Ja", gestand ich. „Was sollen wir machen?" Die Wörter rannten nicht nur aus meinem Mund, unterwegs schlugen sie sogar Saltos und fielen alle der Länge nach hin, sobald sie meinen Mund verlassen hatten. Ich hatte einmal mehr viel zu schnell gesprochen.

Tobias hatte mich trotzdem verstanden. Kurz wägte er ab, ob ich es wirklich ernst meinte, entschied dann aber so und antwortete mir: „Wir mikroskopieren und da Oli krank ist, zu dritt mikroskopieren doof ist und es alleine zu viel Arbeit macht, leiste ich dir mal Gesellschaft."

Ich nickte langsam.

Tobias war ein netter Typ, für meinen Geschmack etwas zu laut und zu gesprächig, aber ansonsten vollkommen okay. Er hatte keine besonders engen Freunde, wie ich das mitbekommen hatte, saß im einen Fach neben dem Einen, im anderen neben einem Anderen. Es störte ihn ganz und gar nicht, denn dafür kam er einfach mit allen klar, fand überall Anschluss.

Er war schon irgendwie beneidenswert.

„Ich hol dann mal unser Mikroskop", sagte Tobias, erhob sich und marschierte der halben Klasse hinterher in die Biologie-Sammlung.

Für einen Moment kam wieder das Glücksgefühl auf, weil der Linkshänder auf meinen Vers geantwortet hatte. Zwei Wochen hatte es gedauert und zwischendurch hatte ich schon die Hoffnung aufgegeben, dass er überhaupt noch einen Vers schreiben würde, doch das hatte er.

Und jetzt reimten sich die vier Zeilen ganz wunderbar.

Warum es wohl so lange gedauert hatte, bis er geantwortet hatte? Vielleicht war sein Unterricht einmal entfallen, vielleicht war er krank oder vielleicht ist ihm erstmal auch überhaupt nichts eingefallen.

Ich befreite mich eilig von meinen Gedanken, stand auf und holte ein Kabel für das Mikroskop vorne am Lehrerpult ab.

Als ich mich wieder setzte, kam Tobias gerade mit ein paar anderen Schülern, mit denen zu quatschen er sich offensichtlich nicht verkneifen konnte, zur Tür herein.

Warum, warum, warum konnte ich sowas nicht? Einfach drauflos reden, ohne sich fürchten zu müssen, etwas Falsches zu sagen oder falsch zu sprechen. Das wäre schön.

„Was ist da?" Tobias war wieder gegenüber von mir aufgetaucht.

Ich musste feststellen, dass mein Blick abermals zum Gedicht abgedriftet war.

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt