10. Vers (Marvin)

710 145 72
                                    

Mir dröhnte noch immer Stephens Gebrüll in den Ohren, das mich wieder geweckt hatte, nachdem ich meinen Wecker aus Versehen überhört hatte.

Anscheinend hatte er sich eine Auseinandersetzung mit meinem Vater geliefert. Letzterer war die Ruhe in Person, was mich früher umso aggressiver gemacht hatte und so anscheinend heute auch Stephen.

Ich hatte noch immer keine Ahnung, worüber die beiden gestritten hatten oder was meinen Vater überhaupt dazu verleitet hatte, so früh aufzustehen, aber mir war klar, dass es ein Fehler von ihm gewesen war.

Stephen schaffte es immer wieder, einem den Tag zu vermiesen.

Mir ganz besonders. Allein dieses Gebrüll heute Morgen war für mich Grund genug, schlecht gelaunt zu sein. Zumindest war ich klug genug, mich erst in die Küche zu wagen, als Stephen sich bereits auf den Weg zur Schule gemacht hatte. Gott sei Dank ging er nicht auf dieselbe Schule wie ich.

Und hier war ich jetzt wieder, hastete zu spät die Treppen zum Biologieraum empor. Seit meiner letzten Verspätung im Biologieunterricht waren bereits fünf Wochen verstrichen. Am letzten Tag vor den Ferien hatte Biologie nicht stattgefunden, dann waren Ferien gewesen und dann hatte ich mir eine Erkältung eingefangen (weil es draußen wieder scheißkalt war - verdammtes Aprilwetter! - und ich immer noch nicht in Erwägung zog, so etwas wie eine Jacke zu tragen). Doch jetzt war ich fast da.

„Du bist zehn Minuten zu spät!", rief mir Nora schon entgegen, als ich die letzten Stufen hinauf kam.

Verwundert sah ich zur ihr hinüber und damit auch zu den anderen. Da war meine Klasse und da war kein Herr Sandman, der etwa den Raum aufschließen könnte.

Ich gesellte mich zu meiner Clique, die einen kleinen Kreis gebildet hatte.

„Du hast echt Glück, Marvin", sagte Leon, als ich mich zwischen ihn und Michael in den Kreis quetschte.

Glück? Dass ich pünktlich war, weil das Sandmännchen noch oder gar nicht da war? „Haben wir Entfall?", fragte ich hoffnungsvoll.

„Wo wir heute doch die Arbeit schreiben, ist das wohl eher unwahrscheinlich", merkte Nora an.

„Ach komm schon, sieh nicht immer alles so negativ, kann doch sein!", mischte sich Andi ein.

„Ich hab sowieso viel zu wenig gelernt...", gab Michael zu.

Ich hingegen starrte überrascht in die Runde. „Welche Arbeit?"

„War ja klar", seufzte Leon, Andi und Michael aber prusteten einfach nur los.

„Wann hat das Sandmännchen das denn bitte angekündigt?", fragte ich. Ich konnte mich definitiv nicht daran erinnern, jemals sowas aufgeschnappt zu haben.

„Andauernd eigentlich", sagte Nora. „Zwei Wochen, bevor wir dich zu viert im Stich gelassen haben, hat er es das erste Mal gesagt."

„Wo ich 86 Minuten Verspätung hatte", ergänzte ich.

„Das nächste Mal eine Woche später, allerdings in Deutsch, relativ weit am Anfang", machte Leon weiter.

„Wo ich ebenfalls ein paar Minuten zu spät gekommen bin", setzte ich hinzu.

„Und permanent letzte Woche, sodass sogar Andi und ich es mitbekommen haben", erklärte Michael.

„Wo ich krank war", schloss ich ab.

Nora lachte ein trauriges Lachen. „Entschuldige, wir dachten wohl, du seist irgendwann mal da gewesen, um es mitzubekommen."

„Tja", machte ich und setzte hinterher: „Na ja, ist bloß Bio."

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt