12. Vers (Marvin)

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„Brauchen Sie Kreide? Ich könnte welche holen gehen", bot ich dem Sandmännchen bereitwillig an, nachdem Nora ihr „Du bist acht Minuten zu spät" gesagt hatte.

Da mich die Kreide Montag gerettet hatte, bot ich das nämlich jeden Tag an.

„Heute nicht, nein", lachte Herr Sandman.

Letzten Montag hingegen hatte er die Kreide in Deutsch sehr wohl gebrauchen können, denn die Brösel, mit denen er davor geschrieben hatte, hatten sich in genau dem Moment verabschiedet, als ich mit der neuen Kreide hereingeplatzt war.

Den ganzen Tag hatten alle meine hellseherischen Fähigkeiten bewundert und das Sandmännchen hatte durch mein perfektes Timing wohl vergessen, dass ich eigentlich schon vor zwei Stunden in der Schule hätte auftauchen sollen (sogar Nora hatte sich einen Blick auf ihre Uhr verkniffen).

Jedenfalls hatte es keine Konsequenzen für mich gegeben. Und das alles hatte ich nur dem Mädchen mit der roten Brille, das so schnell sprechen konnte, zu verdanken.

„Auch gut", sagte ich jetzt und wollte mich an meinen Tisch verdrücken, doch Nora und Andi deuteten beide auf den freien Platz zwischen sich.

Leon fehlte.

Und so kam es, dass ich Leons Platz einnehmen durfte. Allerdings nur wortwörtlich.

„Du hast ja schon wieder das Kreide-Sweatshirt an", raunte Andy, nachdem ich mich neben ihn gesetzt hatte.

Es schien ihm nach wie vor ein Rätsel zu sein, wie mein Ärmel so viel Kreide abbekommen hatte.

Tatsächlich hatte ich das Sweatshirt von Montag in meiner Eile nochmal angezogen und in meiner Eile war mir wohl auch entfallen, dass der linke Ärmel immer noch voller Kreide war.

„Ich hatte es erst einmal an", raunte ich zurück. Und ich war viel zu faul, andauernd die Wäsche zu waschen (was nämlich an mir hängen blieb, weil meine Stiefmutter sich lieber mit anderen Dingen befasste). Da trug ich meine Sachen vorzugsweise öfter.

Herr Sandman schrieb inzwischen den Notenspiegel der Bioarbeit an die Tafel. „Sie ist ziemlich gut ausgefallen, zwölf Zweien, neun Dreien und zwei Vieren", fing er an. „Allerdings auch zwei Sechsen", an dieser Stelle tauschten Andi und Michael vielsagende Blicke, „Ausgleichend jedoch ebenfalls zwei Einsen." Nun nahm er den Stapel Arbeiten in die Hände. „Berichtigung macht ihr Zuhause alleine."

Das mochte ich an dem Sandmännchen ganz besonders. Es spannte einen nicht lange auf die Folter, indem es elend langsam die Berichtigung an der Tafel mit der Klasse machte und jeder vor Spannung auf seine eigene Note fast umkam.

Nein, Herr Sandman machte es kurz und schmerzlos.

„Andi, Michael - das geht besser, würde ich meinen." Er war vor den beiden aufgetaucht und reichte ihnen ihre Arbeiten, dann eilte er wieder in einen anderen Winkel des Raums, um die nächste Arbeit zurückzugeben.

„Sechs und du?"

„Sechs."

Sie gaben sich High Five.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis das Sandmännchen wieder zu uns kam. Nora wurde neben mir ganz ungeduldig und ich meinte mir einzubilden, dass sie noch öfter zwinkerte als sonst schon. „Bitte eine Zwei", murmelte sie. „Bitte eine Zwei."

„Als ob du keine kriegen würdest", erwiderte ich in normaler Lautstärke.

„Ich hab ein schlechtes Gefühl", meinte sie. „Ich habe mindestens zwei Mal die falsche Antwort gegeben."

„Tragisch, jetzt wird's wohl ne Sechs", spottete ich. „Aber nein, die sind nicht mehr frei." Ich warf Andi und Michael einen Seitenblick zu, die begonnen hatten, sich gegenseitig ihre dämlichen Antworten zu den einzelnen Fragen vorzulesen.

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt