14. Vers (Marvin)

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Ich war ein bisschen spät.

Nur ein bisschen.

Ich klopfte an den Fachraum und als mir die Tür geöffnet wurde - nicht vom Sandmännchen, sondern von dem Klassenkameraden, der am nächsten an der Tür saß -, lag mir eine Entschuldigung bereits auf der Zunge.

Ich wollte gerade zu dieser ansetzen, da nahm Frau Koch Nora schon ihren Text ab: „Du bist zehn Minuten zu spät!" Und machte weiter mit: „Das gibt einen Eintrag ins Klassenbuch, denn an Regeln, an Uhrzeiten, hat man sich zu halten."

Ich war vollkommen perplex und musste ein paar Mal blinzeln. Aber Frau Koch verschwand nicht.

War ich am falschen Tag im falschen Unterricht gelandet? Wäre mir ja zuzutrauen.

„Äh...", machte ich, kratzte mich am Kopf.

„Hinsetzen wäre von Vorteil", riet Frau Koch mir.

Ich ließ meinen Blick durch die Klasse schweifen. Doch, das war meine.

Ich setzte mich. „Was zur Hölle ist hier los?", zischte ich den Vieren vor mir zu.

„Hölle beschreibt es schon ziemlich gut", flüsterte Michael zurück.

„Du bist übrigens nicht zehn Minuten zu spät, es sind nur acht", stellte Nora richtig.

„Danke, das beruhigt mich", sagte ich und starrte an die Tafel. Für Biologie definitiv zu viele Zahlen. „Wir machen Mathe?"

„Ja, es ist furchtbar", sagte Andi.

„Ich habe aber keine Mathesachen dabei."

„Nicht gut", meinte Michael und gestand anschließend: „Aber ich auch nicht."

„Und ich ebenso wenig", kam es prompt von Andi.

„Leute! Es gibt Menschen, die zuhören wollen, Klappe jetzt!", wies uns Leon zurecht.

„Von mir aus", gab ich zurück und meldete mich. Mathe war mein Lieblingsfach, leider war ich nicht Frau Kochs Lieblingsschüler (den Platz hatte Leon inne). Dafür kam ich zu oft zu spät und Frau Koch regte sich zu oft zu sehr darüber auf. Sie war unfreundlich, ja, das war sie. Manchmal fragte ich mich, wie sie so geworden war, wer sie zu dem Menschen gemacht hatte, der sie heute war.

Sagte man nicht, die kältesten Menschen besaßen einst das wärmste Herz? Bei Frau Koch war das nur schwer vorstellbar.

Vielleicht war auch nichts dran an dem Spruch.

Vielleicht würde er aber irgendwann auch auf mich zutreffen. Oder traf er längst auf mich zu? Ich hatte schon viele Dinge in meinem Leben getan und gesagt, auf die ich nicht stolz war.

Die Vergangenheit ist Schuld

Das kleine rote Sätzchen sprang mir ins Auge und als ich es las, war mir, als könne die Person mit der geschwungenen Handschrift meine Gedanken lesen. Ja, sie gar voraussehen.

„Folgende Aufgaben werdet ihr in der nächsten halben Stunde bearbeiten", sagte Frau Koch und schrieb ein paar Seitenzahlen mitsamt den dazugehörigen Aufgabennummern an die Tafel.

Andi meldete sich.

„Ja?"

„Ich habe kein Mathebuch."

„Dann schau bei deinem Sitznachbar mit rein", sagte Frau Koch, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt und Andis Einwand nicht gerechtfertigt.

„Der hat auch keins."

„Ich auch nicht", rief ich rein, um Frau Koch ein bisschen zu ärgern und weil es ja stimmte.

Mir taten es die meisten nach.

„Könnt ihr keine Vertretungspläne lesen?" Frau Koch regte sich auf, was mir eine gewisse Genugtuung gab.

„Doch", murmelte Andi gerade so laut, dass ich es eine Reihe hinter ihm noch hören konnte, „nur ignoriert man die blöden Umlegungen gerne."

Michael pflichtete ihm leise bei, während ich wohl der Einzige zu sein schien, der wirklich keine Vertretungspläne las.

Für gewöhnlich wurden Bio und Mathe aber auch nicht vertauscht und schon gar nicht fand Mathe im Bioraum statt.

Nach langer Diskussion legte Frau Koch ihr eigenes Buch unter den Präsenter.

Tatsächlich war Leon der Einzige, der sein Mathebuch mitgebracht hatte. Wie hatte Nora es Ende April so schön gesagt? Streber.

„Das ist wieder so typisch", meinte Michael mit skeptischem Blick auf Leons Mathebuch.

„Ganz und gar typisch, Michael, in der Tat. Du und Andi lasst eure Bücher zu Hause und Marvin verpeilt sowieso alles."

„Danke!", kam es von mir.

„Gerne und jetzt wieder Klappe halten", erwiderte Leon an uns alle gerichtet.

„Ach, Schatz", sagte Nora und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter.

„Für dich gilt das natürlich nicht, Häschen."

Ich wusste schon, warum Leon einst mein bester Freund gewesen ist. Er war einfach erfrischend komisch.

Hin und her gerissen zwischen den Matheaufgaben und dem Schreiben des mittlerweile vierzehnten Verses, ergab ich mich der Mathematik.

Zahlen waren beruhigend. Einschläfernd. Die perfekte Beschäftigung vor dem Zubettgehen, obwohl ich mit dieser Meinung so ziemlich alleine dastand.

Ich mochte Zahlen, ich mochte auch die hinein gemischten Buchstaben, die alles interessanter machten, die Konflikte schafften, die der Mathematiker zu lösen versuchte.

Ich mochte die Logik. Das Leben war kompliziert, aber Mathe war es nicht, für mich war es leicht. So schrecklich logisch, so wunderbar klar. Es gab nur richtig oder falsch, keine hunderttausend Mittelwege, die nur Geschmackssache waren. Ja, Wörter waren Geschmackssache; mir gefiel zum Beispiel das Gedicht über die Einsamkeit und Anderen würde es kein bisschen gefallen, wenn sie es lesen würden.

Als alle in ihren Aufgaben versunken waren und Andi und Michael genug bei mir und Leon nachgehakt hatten, wie man die Aufgaben zu rechnen hatte, wandte ich mich wieder dem gekritzelten Gedicht zu.

Bald würde es vorbei sein. Es war schon Mai, bald war Juni und im Juli würde es Ferien geben.

Dann war es aus mit ihm - mit der Einsamkeit wohl aber nicht.

Die Vergangenheit ist Schuld

Bei ihr also auch, ja? Ich fragte mich, was ihr widerfahren war.

Jeder hatte seine Vergangenheit und sie war der Schlüssel zur Gegenwart. Und so zur Einsamkeit. Die Vergangenheit war wirklich Schuld.

die Umstände sind Schuld, ergänzte ich diesmal.

Wären die Gegebenheiten anders gewesen, wäre mein Leben anders, dann wäre auch ich anders und Stephen wäre vielleicht niemals mein ätzender Stiefbruder geworden.

Die äußeren Umstände waren scheiße. Ein paar schicksalhafte Begegnungen mehr wären wirklich ganz nett.

Eigentlich sollte ich dankbar sein. Das Gedicht war doch ein Anfang. Jetzt brauchte ich nur noch der Person begegnen, die meine Gedanken voraussehen und in Worte fassen konnte.

Los, Schicksal, mach schon. Bloß war das Schicksal ein Feigling, es zündete das Lichtlein kurz an, nur um es im Anschluss wieder auszupusten.

Wie hieß der fünfte Vers unseres Gedichts so schön? Lichtblicke sind nicht von Dauer.

Sagte ich es doch, das Mädchen konnte Gedanken lesen.

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt