6. Vers (Marvin)

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Ich rieb mir die müden Augen.

Wie zur Hölle kam da eine Tankstelle hin? Eigentlich sollte das da vor mir eine Schule sein.

Durchatmen, Marvin.

Du weißt zwar nicht mehr, was du angestellt hast, aber anscheinend hast du dich auf dem Weg zur Schule verlaufen.

Na bravo.

Orientierungssinn? Welcher Orientierungssinn? Gab's sowas überhaupt?

Hey, und meinen Kaffee hatte ich mir wie's aussah auch gespart!

Wie war ich eigentlich hierhergekommen? Ich konnte mich nicht erinnern, aufgestanden zu sein.

Manche mussten ganz schön betrunken sein, um das hinzukriegen, aber ich konnte das auch mit nur fünf Stunden Schlaf und einer leichten Gehirnerschütterung.

Ich blickte auf das Handydisplay. Die erste Stunde hatte ich schon mal verpasst, würde ich sagen.

Zunächst versuchte ich, bewusst meine Umgebung wahrzunehmen. Schwarzer Himmel, Straßenlaternen, die den Weg erhellten, ein paar Menschen. Und die Tankstelle vor mir. Für genauere Details war ich nicht in der Verfassung.

Schließlich gab ich den zaghaften Versuch einer Orientierung auf und ließ mich von Google Maps zur Schule navigieren.

***

„Ich hoffe, du hast eine gute Entschuldigung", sagte das Sandmännchen, als es mir die Tür aufhielt und ich in den Fachraum hereinspaziert kam.

„Leider nicht." Oder zählte Ich habe mich auf dem Schulweg verlaufen, den ich erst seit bald sechs Jahren kenne zu den guten Entschuldigungen?

„Wir unterhalten uns noch." Das klang gar nicht gut. Das letzte Mal, als wir uns unterhalten hatten, war ich anschließend beim Therapeuten gelandet. Stand es wirklich wieder so schlecht um mich und ich hatte es bloß nicht mitbekommen?

„86 Minuten", sagte Nora.

86 Minuten Verspätung, das hatte ich auch schon lange nicht mehr gebracht. Ich war immer wieder für Überraschungen gut.

***

Lichtblicke sind nicht von Dauer, las ich den ersten Vers der neuen Strophe. Lichtblicke? Was hatte das Mädchen - ich hatte offiziell beschlossen, dass es sich um ein Mädchen handeln musste - dazu verleitet, einen solchen Anfang für den nächsten Vers zu wählen? Es redete aus Erfahrung, da war ich mir sicher. Das hier waren nicht irgendwelche zusammengewürfelten Worte, nein, so klangen sie nicht. Hinter den Worten verbarg sich ein Leben, das des Mädchens und vielleicht sogar meins. Vielleicht eine Mischung aus zwei Leben, doch man musste zwischen die Zeilen schielen.

Wenn das Gedicht eines schönen Tages fertig war, wäre das Puzzle komplett und vielleicht würden wir dann alles von uns preisgegeben haben, ohne auch nur irgendwas preisgegeben zu haben.

Am Ende würde ich die Schreiberin vielleicht kennen und sie trotzdem nicht kennen.

Was half es also, dieses Gedicht zu schreiben, wenn es nicht einmal die Einsamkeit tilgen konnte?

Aber es gibt der Einsamkeit ein Gesicht, mehr noch, es reißt ihr die furchteinflößende Maske herunter. Der Gedanke war da, ohne dass ich ihn hergebeten hatte.

Außerdem half es gegen die alltägliche Langeweile im Unterricht und es war faszinierend, ein Gedicht über Wochen zu verfassen und das mit einer Person, die ich nicht kannte und irgendwie ja doch ein bisschen.

Lichtblicke, wie? Ich betrachtete wieder die rotgeschriebene Zeile.

Es klingelte bereits zur Pause (man, das ging schnell), als ich endlich einen Stift nahm, diesmal einen grünen Filzstift, und hastig einen Vers hinzufügte.

bessere Zeiten kommen nicht

Zugegeben, das klang ziemlich pessimistisch, aber es war doch wahr. Denn gerade als man glaubte, alles wäre besser geworden, wollte das Sandmännchen dich wieder sprechen.

So wie damals.

***

„Wie geht es dir?", fragte Herr Sandman, nachdem alle Schüler das Klassenzimmer verlassen hatten und ich und er übrig geblieben waren.

Ich hasste diese Frage. Mein Therapeut hatte sie auch immer gestellt. „Ich habe zu wenig geschlafen, sonst ist alles gut."

Herr Sandman nickte. „Wie läuft's Zuhause?"

Scheiße wie immer. „Es ist okay." Ich hatte wirklich keine Lust auf Reden. Mein Leben ging wieder bergauf und trotzdem immer noch bergab.

Das Sandmännchen fragte unbeirrt weiter. „Zehn Minuten Verspätung lassen sich noch tolerieren, aber Marvin, das hier sind zwei Stunden."

Na ja, die letzten paar Minuten war ich ja dann da. „Es kommt nicht mehr vor."

„Marvin, geht es dir wirklich gut? Du beteiligst dich zwar am Unterricht, aber seit dem Anfang des Schuljahrs hat die Beteiligung nachgelassen."

„Dann krieg ich halt nur eine Zwei im Zeugnis. Auch gut."

„Wir wissen beide, dass es darum nicht geht."

Leider ja.

Herr Sandman wagte sich weiter vor. „Wie kommst du momentan mit deinem Bruder zurecht?"

„Stephen ist nicht mein Bruder und das wissen Sie genau!" Ich war laut geworden. Gleich würde ich zu schreien anfangen. Ich wollte nicht reden. Ich hatte keine Lust darauf.

In den Augen meines Lehrers blitzte etwas auf, das mir ganz und gar nicht gefiel. In diesem Moment sah er mich so an, wie er mich früher angesehen hatte, als ich eigentlich nichts anderes getan hatte, als zu brüllen und zu schlagen. „Ich schließe daraus, dass du immer noch deine Probleme mit ihm hast."

Ich fing mich einigermaßen, klatschte in die Hände. „Sauber erkannt!", antwortete ich zynisch.

„Ich möchte, dass du mir erklärst, warum du zwei Stunden zu spät bist."

„Ich muss gar nichts erklären, ich hab jetzt Pause."

„Und ich muss deine Verspätungen nicht immer streichen, ich kann sie alle unentschuldigt in dein Zeugnis eintragen. Aber ich werde es nicht machen, weil ich dir helfen will."

„Sie wollen mir helfen? Adoptieren Sie meinen Stiefbruder, dann bin ich ihn los."

„Ihr habt euch wieder geprügelt, nicht wahr?"

Unwillkürlich griff ich mir an die Beule an meinem Kopf. Ich hatte Kopfschmerzen wie verrückt. „Möglicherweise." Leugnen half ja eh nichts.

„Was sagt dein Vater dazu?"

„Der hat schon geschlafen, aber ich kann das leider nicht, wenn Stephen im Zimmer nebenan auf seinem Schlagzeug rum haut."

„Das hat dich wütend gemacht?"

„Ich bin nicht der einzige mit Aggressionsproblemen! Seine sind noch viel ätzender."

„Also würdest du sagen, die Aggressionen sind wieder schlimmer geworden?"

„Haben Sie nicht gehört? Stephens Aggressionen sind schlimmer geworden. Mir ist letzte Nacht einfach der Kragen geplatzt. Das wäre jedem anderen auch passiert."

Er sah mich noch immer besorgt an. „Na schön, wir werden das beobachten und du solltest nach Hause gehen. Du siehst nämlich gar nicht fit aus und ich schätze, die Schläge deines Stiefbruders haben gesessen."

Nicht so gut wie meine, denn ich boxte seit gut einem Jahr im Verein. Aber ja, auch seine Schläge hatten ihren Tribut gefordert. „Also gut."

Und damit verließ ich den Raum.

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt