2. Vers (Marvin)

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Ich war zu spät, keine Frage. Aber ich war immer zu spät.

Nachdem ich durch die leeren Gänge gelaufen war, durch das Labyrinth einer Schule, indem ich mich nur dank jahrelangem Verlaufen endlich zurechtfand, gelangte ich schließlich zum Unterrichtsraum.

Vor der Tür hielt ich inne; der Husten packte mich wieder. Womöglich hätte ich Zuhause bleiben sollen, immerhin hatte ich die letzten neun Schultage nichts Anderes getan. Warum ich mich dennoch zur Schule geschleppt hatte, ausgerechnet an einem Freitag, verstand nur der Teil von mir, der den tiefen Hass gegen meinen Stiefbruder hegte. Da der Kerl sich entschlossen hatte, krank zu werden, hatte ich mich entschlossen, gesund zu werden. Funktionierte allerdings nur in der Theorie.

Ich wollte gerade klopfen, doch da öffnete mir das Sandmännchen schon die Tür zum Fachraum. „Sieh einer an, Marvin! Ich hätte nicht gedacht, dass du uns heute noch beehrst!"

Herr Sandman war schon in Ordnung. Ein Lehrer, der mit jedem freundschaftlich umging, der niemanden aufgab und der immer half, wo er helfen konnte. Mir hatte er sehr geholfen.

Ich betrat den Raum. „Um ehrlich zu sein", setzte ich mit etwas heiserer Stimme an, „Ich hätte es auch nicht gedacht." Ich überließ ihm den Umschlag mit der Entschuldigung für die knapp zwei versäumten Schulwochen.

Ich hatte das Halbjahr wirklich brillant begonnen. Nämlich gar nicht.

„Ich nehme an, deine heutige Verspätung ist nicht mit einberechnet?", fragte das Sandmännchen, während es mich wohlwollend aus dem Klassenbuch strich und meine heutige Verspätung zum Gerücht wurde.

„Seien Sie nicht albern", erwiderte ich, wandte mich der Klasse zu und ging dann in Richtung meiner Clique, die brav aufgereiht in ihrer Viererreihe Platz genommen hatte. Andi neben Michael, Michael neben Leon und Leon neben Nora.

Wahrscheinlich würde ich auch mal neben Freunden von mir sitzen, wenn ich es in Erwägung ziehen würde, Erkältungen nicht andauernd zu provozieren und Verspätungen zu vermeiden. So musste ich immer den Platz nehmen, der übrig blieb.

„Und?", fragte ich an Nora gerichtet, doch laut genug, dass die ganze Klasse mithören konnte. Ich fragte das, was ich immer fragte.

Und Nora antwortete das, was sie immer antwortete. Mit der Anzahl der Minuten, um die ich mich verspätet hatte.

Das Mädchen mit dem roten Haar und dem Zwinker-Tic sah auf seine Armbanduhr, dann zu mir. „Neun Minuten", verkündete es.

„Na also. Bin doch fast pünktlich."

„Einen Preis kriegst du trotzdem nicht", antwortete das Sandmännchen, während ich meinen Rucksack in der allerletzten Reihe platzierte, die eigentlich keine Reihe war, sondern nur ein einzelner Tisch. Ein dreckiger einzelner Tisch, wahrscheinlich älter als ich selbst.

Ich nahm daran Platz. Natürlich hätte ich auch in einer anderen Tischreihe Platz nehmen können, doch lieber saß ich hier hinten. Nicht weil ich mit dem Rest nicht auskam, gewiss nicht, immerhin hatte ich es zum Klassensprecher gebracht, und auch nicht, weil ich drauf setzte, nicht drangenommen zu werden, immerhin war mir die Schule noch nie schwer gefallen, sondern vielmehr weil ich lieber in der Nähe von meinen Freunden saß und ich sowieso schon immer der Einzelgänger gewesen war, dem man seinen Freiraum lassen musste.

Oder den man ihm einfach gelassen hatte und der sich dadurch zu sehr daran gewöhnt hatte. Wer wusste das schon so genau?

„Schade", seufzte ich gespielt, was das Gespräch mit Herr Sandman beendete. Dieser fuhr nun im Unterricht fort.

Einen Moment blieb die Aufmerksamkeit bei ihm, doch dann hustete ich. Wobei Husten eine nette Umschreibung für den hässlichen Laut war, den ich da ausstieß.

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt