9. Vers (Elisabeth)

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Der Frühling hatte begonnen.

Die Bäume bekamen die grünen Kleider zurück und die Vögel hörte man wieder singen.

Der Schnee war fort und so auch die Kälte.

Gerade als man zu glauben begonnen hatte, der Winter würde nie vergehen, da war er vergangen.

Und nun hatten wir Frühling. Die Jahreszeit, die einen Neuanfang symbolisierte. Und hier war er. Nur war es leider nicht meiner.

Ich hatte meine Chance letzten Sommer gehabt und hatte feststellen müssen, dass ich bei dem Ding, das sich Neuanfang nannte, zwar neu angefangen hatte, dann aber hatte begreifen müssen, dass die Augen nur etwas anderes sahen und die Ohren eben etwas anderes hörten, doch der Körper noch immer dasselbe tat und die Gedanken noch immer dasselbe dachten.

Eigentlich hätte ich aufhören sollen, mich für Neuanfänge zu interessieren, doch ich tat es noch immer.

Ich wartete noch immer auf den Neuanfang, der alles veränderte.

Es konnte doch nicht jeder Neuanfang so grau sein wie mein letzter. Die Natur zum Beispiel - sie hatte den Winter durch den Frühling erfolgreich überwunden, warum konnte mir dasselbe nicht auch gelingen?

Weil du nicht die Natur bist, Elisabeth. Weil du ein Mensch bist und dir der Frühling nicht helfen wird, deine Einsamkeit auszulöschen.

Und doch...

Meine Augen galten nur noch der wunderschönen Natur. Auf dem Schulweg hatte ich stetig aus dem Fenster des Zugs gesehen. Ich konnte mich nicht dran satt sehen, dass das Grün tatsächlich zurückkehrte. Obwohl ich es schon so oft geschehen war, war es doch jedes Mal ein Wunder.

Auch die ersten beiden Schulstunden hatte ich aus dem Fenster gestarrt und die darauffolgende Pause auf dem Schulhof verbracht, der von der Sonne bestrahlt wurde - oh, wie ich die Sonne liebte!

Ich mochte den Winter, keine Frage, aber den Frühling hatte ich noch etwas lieber.

Nun trat ich - wie so oft davor schon und so viele Male danach noch - in den Biologieraum.

Heute war ich für meine Verhältnisse ziemlich gut gelaunt. Mein Einzeltisch stand direkt am Fenster, nach dieser Woche waren Ferien und zum ersten Mal konnte ich nach nur sieben Tagen schon den nächsten Vers lesen.

und ich werde sauer.

Ich würde den Schreiber so gerne kennenlernen.

Er wurde also sauer. Es sagte viel über ihn aus. Er reagierte auf die Einsamkeit wohl nicht wie ich mit Trauer, sondern mit Zorn.

und ich werde sauer.

Was ist er gewesen, bevor er sauer geworden ist?

Ich würde ihn gerne fragen, doch mir würde es auch schon reichen, ihm Hallo sagen zu können.

Einerseits machten mich die Verse glücklich und andererseits so tieftraurig.

Glücklich, weil ich mich nicht mehr ganz so einsam fühlte.

Tieftraurig, weil grundlos Hoffnung in mir aufkeimte. Hoffnung auf ein baldiges Ende der Einsamkeit, doch ich bezweifelte, dass sich das Hoffen wirklich lohnte. Es war lediglich naiv.

In diesem Augenblick überwog die Traurigkeit und wie aufs Kommando begann es nun auch zu regnen.

Ach, Sonne...

Sie war nicht mehr zu sehen. Die Wolken hatten sie gefangen genommen, hatten sie für den Menschen unsichtbar gemacht. Oder war es gar nicht so, war es eigentlich ganz anders? Vielleicht versteckte sich die Sonne ja in Wirklichkeit auch hinter den Wolken, weil sie keine Lust mehr auf die Welt hatte. Oder die Wolken wollten die Sonne beschützen, auch wenn sie damit das Strahlen dimmten und die Welt dunkler machten.

Die Sonne war ein Lichtblick, aber vielleicht sollte es keinen Lichtblick für mich geben.

Im selben Moment erkannte ich, dass ich einen Lichtblick hatte, Sonne hin oder her.

Das Gedicht war mein Lichtblick. Und auch wenn der dunkle Tunnel noch so lang war, inzwischen konnte ich dieses kleine Licht in der Ferne sehen.

Selbst wenn es nicht größer werden würde, es war da.

Das Ende der Einsamkeit war da und ich musste es bloß irgendwie erreichen.

***

Ich war froh, dass Frau Koch nicht mehr daran interessiert war, mich in ihrem Unterricht zu quälen. Sie akzeptierte, dass ich meine Gedanken nicht an ihn binden konnte.

Ich hatte es auch akzeptieren müssen.

Das Tagträumen machte meine Noten schlimmer als sie sein müssten.

Meine Gedanken waren ein Chaos, ich war ein Chaos und mein Zimmer war wohlgemerkt auch eins.

Für einen kurzen Moment versuchte ich mich daran, Frau Kochs Unterricht zu folgen, ich nahm sogar einen Zettel raus und schrieb mit, was meine Klassenlehrerin mit Kreide an die Tafel brachte.

Dann aber sah ich wieder aus dem Fenster. Die Wolken sperrten die Sonne noch immer aus.

Sonne und Wolken, eigentlich waren sie keine Gegner, sie gehörten zusammen.

So wie meine Sprechgeschwindigkeit und ich zusammengehörten.

Es gab Tage, an denen Wolken und Sonne miteinander harmonierten, an denen man beide sah, Wolken und Sonne. Solche Tage mochte ich sehr gerne.

Warum gelang es mir selbst nicht, warum ließ ich mir von meiner Sprechgeschwindigkeit Steine in den Weg legen, über die ich stolperte?

Ob ich eine Wahl hatte? Ob ich vielleicht gar nicht einsam sein musste, ob ich die Steine zu meinem Vorteil nutzen konnte?

Ich wusste nicht wie. Ich hatte all meine Chancen vertan und ein neuer Neuanfang befand sich nicht in absehbarer Nähe.

Ich hatte nur das Gedicht.

Und den Jungen dahinter, der mir vertrauter und fremder zugleich war als jeder meiner Klassenkameraden.

Ich würde die dritte Strophe beginnen.

Ich suche nach einem Ausweg

Ich setzte den roten Stift wieder ab und war zufrieden. Oh ja, ich suchte einen Ausweg, doch mir war klar, dass sich keiner so leicht finden ließ. Dafür suchte ich schon zu lange erfolglos.

Aber ich konnte doch nicht immer einsam bleiben, oder? Es gab schon Zeiten, da hatte ich Freunde und es würden wieder welche kommen, nicht wahr?

Irgendwann würde ich einen Ausweg finden.

Ich hatte mich mal gefragt, wie lange ich noch gegen die Einsamkeit bestehen konnte, doch dieser Gedanke erschien mir nun vollkommen sinnlos und falsch.

Denn die Frage war nicht, wie lange ich noch gegen die Einsamkeit bestehen konnte, sondern wie lange die Einsamkeit noch gegen mich bestehen konnte.

Ihre Tage waren gezählt, das redete ich mir nun ein. Denn die Einsamkeit, die war schwach.

Schwächer als ich.

Das hoffte ich zumindest...

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt