Der blinde Passagier

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Rackham kochte vor Wut.
Noch nie in seinem Leben war er so wütend gewesen. Sein Gesicht glühte förmlich und seine Hände hatte er zu Fäusten geballt. Zähne knirschend starrte er ununterbrochen auf den Strand.

Keiner seiner Männer wagte es, ihn anzusprechen.
Wenn Rackham so eine Laune hatte, hielt man sich lieber fern von ihm.

Zwar war Rackham nun endlich dort, wo er hin wollte, doch sein Plan, die Jungen zu töten, war vereitelt worden, und das ausgerechnet von seinem Ersten Offizier.
Abgesehen davon hatte Rackham vier Männer im Kampf gegen Jamie verloren.

Er wollte ihr Blut - das von Jamie und das von dem fliegenden Jungen. Wenn der Junge nicht schon längst durch das Gift in der Kugel gestorben war. Ja, höchstwahrscheinlich lebte er schon längst nicht mehr, denn soweit Rackham wusste, gab es kein Gegenmittel dafür.

Dann wäre nur noch Jamie übrig, nur wusste Rackham nichts von dieser Insel und auch nicht, wo der Verräter sich momentan aufhielt.

Wie deprimierend.
Er, Rackham, war der gefürchteste Pirat der sieben Weltmeere und hatte noch nicht mal seinen Ersten Offizier töten können, nachdem dieser in verraten hatte!

Er musste Jamie finden und vernichten - sonst wäre sein gefürchteter Ruf bei den Männern ruiniert. Falls er es schaffte, würde er auch noch die anderen Jungen töten, doch an der Spitze stand zu allererst Jamie.

Der sollte gründlich für einen Fehler bezahlen! Früher oder später würde er noch bereuen, was er getan hatte!
Niemand legte sich mit dem Herrn der Piraten an!

Rackham hob die Faust und donnerte sie auf das Holz der Reling.
Smee, der zitternd neben ihm stand, zuckte erschrocken zusammen und wich einen großen Schritt vor dem Käpt'n zurück.

Doch Rackham war Smee egal.
Ihn kümmerte im Moment gar nichts, der Schatz der Insel nicht und auch die Tatsache, dass die Sonne hoch am Himmel stand, obwohl in London es bereits Nacht gewesen war, nicht.

Er wollte Jamie. Oder genauer gesagt James Hook. Um jeden Preis.

Rackham schloss für einen kurzen Moment die Augen und versuchte sich zu beruhigen.

Er würde wahrscheinlich eine längere Zeit auf dieser Insel festsitzen, er brauchte sich also keinen Stress zu machen.
Früher oder später würde er Jamie gegenüber stehen.

"Ähm, Käpt'n?" Smee hatte sich ganz vorsichtig wieder näher heran gewagt.

"Was willst du, Smee?", fragte Rackham relativ ruhig für seine derzeitige Stimmung.

"Die Männer haben da etwas unter Deck gefunden...", fuhr der alte Steuermann nervös fort und rang die Hände.

Rackham runzelte die Stirn ohne Smee anzusehen.
"Was haben sie gefunden?"

"Das solltet ihr euch vielleicht selbst ansehen", antwortete der alte Mann und machte eine 180° Wendung nach rechts.

Widerwillig drehte Rackham sich ebenfalls herum und starrte einen seiner Männer - Nielsen hieß er - der auf ihn zu kam, an.
Als Rackham erkannte, was der Pirat da mit beiden Händen gepackt hatte, wurden seine Augen groß.

Ein Mädchen?!

Das Mädchen war vielleicht um die sieben oder acht Jahre alt und versuchte sich verzweifelt aus den Fängen des Piraten zu lösen.
Als sie Rackham sah, wurde ihre Panik noch größer.

"Was soll das?", fuhr Rackham Smee unwirsch an, "Warum haben wir noch ein Kind an Bord?!"

"Ich weiß nicht, Käpt'n", murmelte Smee entschuldigend, "Die Kleine muss sich in London an Bord geschlichen haben."

Rackham wandte seinen Blick wieder zu dem Mädchen und setzte sich vor sie in die Hocke.

"Sie sieht nicht aus, als würde sie aus London kommen", sagte er langsam, mehr zu sich selbst als zu Smee, "Eher wie aus einem Indianerstamm..."

Umso länger er das Mädchen musterte, um so sicherer war er sich, dass er mit dieser Vermutung recht hatte.
Dieses Kind war ein Rothaut! Wie zum Teufel war die hierher gekommen?!

Das Mädchen zitterte unter Rackhams Blick wie Espenlaup und starrte mit Schreck geweiteten Augen zurück.

Rackham sprang wieder auf die Füße und fuhr sich nachdenklich über seinen Oberlippenbart.

Vielleicht war sie eine Sklaventochter... das würde aber immernoch nicht erklären, warum sie sich auf seinem Schiff befand.

"Warum bist du hier?", fragte der Piratenkapitän das kleine Mädchen schroff.

"Ich... ich...", stotterte das Ding verängstig und brachte keinen Ton mehr heraus.

Rackham ließ zornig Luft aus seinem Mund entweichen.
Das Mädchen wimmerte.

"Ich will zu Papa", flüsterte sie schließlich sehr leise, doch Rackham verstand es trotzdem.
Er runzelte die Stirn.

"Wo ist er?", hakte er nach. Irgendetwas war doch hier komisch...

Das Mädchen streckte einen Arm aus und deutete hoch zu den Klippen der Insel.

"Da oben.", antwortete sie weinerlich.
Als sie den Arm wieder sinken ließ, wich sie Rackhams Blick aus und starrte schniefend auf das Deck.

Rackham sah hoch zu den Klippen.
Zuerst konnte er nichts erkennen außer Gestein und Wald.
Doch dann entdeckte er einen Rauchsäule hinter ein paar Bäumen, die sich kaum zu sehen ihren Weg in den Himmel bahnte.

Feuer.

Plötzlich wurde Rackham ganz aufgeregt.
Da oben lebte jemand, es gab keinen Zweifel. Vielleicht war Jamie auch dort.

Rackham warf noch einen Blick auf das Mädchen. Wenn sie recht hatte, und ihr Vater war tatsächlich da oben, dann...

"Es gibt hier Rothäute", sprach Rackham seine Gedanken aus, "Vielleicht sogar ein ganzes Dorf voll!
Männer, wir haben Glück!"

Mit einem Mal war Rackhams gute Laune wieder da.
Oh ja, er würde seine Rache bekommen!

Und er hatte schon einen Plan.

"Mr Nielsen, passen Sie ja auf, dass das Mädchen nicht entwischt!", befahl er dem Piraten, der immernoch das Mädchen festhielt.

"Aye, Käpt'n", erwiderte Mr Nielsen als Antwort und führte das verheulte Ding wieder ein paar Meter vom Käpt'n weg.

"Smee, ziehen Sie Ihr Hemd aus.", sagte Rackham ununterbrochen lächelnd zu seinem Steuermann ohne den Blick von der Rauchsäule zu lassen.

Smee verblüfften Blick ignorierte er.

Während der Steuermann sich umständlich aus seinem Hemd quälte, grinste Rackham in sich hinein.

"Jamie, du bist tot", sagte er leise zu sich selbst.

Er warf den Kopf in den Nacken und brach in ein schallendes Gelächter aus, das von den Klippen und den Bäumen widerhallte.

Peter Pan - Wie alles begann 🏁Where stories live. Discover now