Ein Notfall

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Während des Fluges wischte Peter sich unsanft die Tränen von den Wangen. Eigentlich wollte er nicht weinen - aber da man ihn hier oben sowieso nicht sah, war das auch egal.
Er fühlte sich schlechter denn je. Er war gerade dabei, Nimmerland zu verraten und dieser Gedanke machte ihn fertig. Was ihn einzig und allein tröstete, war die Tatsache, dass er es für seine Freunde tat. Er hatte keine andere Wahl und doch hatte er entsetztliche Gewissensbisse.
Die Striemen an seinen Unterarmen, die durch sein Zerren an den Fesseln entstanden waren, schmerzten sehr, doch Peter ignorierte es.
Er hatte es verdient zu leiden.
Warum war er auch so dumm gewesen? Er hätte auf Tinkerbell hören sollen und die Jungen retten müssen, wenn sie von der Planke geschubst worden wären.
Aber er hatte Angst gehabt.
Er war kein guter Schwimmer und er hatte nicht riskieren wollen, dass einer der Jungen seinetwegen ertrank.
Er hatte sich beweisen wollen.
Tinkerbell hatte ihn einen kindlichen Draufgänger genannt.
Jetzt wusste Peter, dass sie Recht hatte.
Apropos Tinkerbell: Peter hatte keine Ahnung, wo sie abgeblieben war. Vielleicht war sie noch auf dem Schiff? Peter hoffte es nicht.
Denn jetzt war es zu spät zum Umkehren, er wurde gerade durch den magischen Tunnel ins Nimmerland gesaugt.
Vor ihm lag die Insel, auf der Deers Stamm lebte.
Peter schluckte.
Er hatte einen Plan, allerdings brauchte er dafür Deers Hilfe... Und das wiederum bedeutete, dass Peter ihm alles beichten musste.
Peter sah schon vor sich Deers enttäuschtes und wütendes Gesicht und er wünschte, er könnte im Erdboden versinken.
Es gab hier im Nimmerland bestimmt irgendwo ein Loch, in dem er verschwinden konnte, aber das würde seinen Freunden auch nicht helfen.
Er musste das jetzt durchziehen.
Und dann, wenn er die Piraten ins Nimmerland gebracht hatte, musste er alles Erdenkliche tun, um sie wieder zurück zu schicken.

Das Dorf kam immer näher. Peter nahm Deers Zelt ins Visir.
Mittlerweile hatten die ersten Leute auf der Klippe ihn bemerkt und deuteten aufgerekt in den Himmel.
Peter wischte sich ein letztes Mal über die Wangen, um die letzten Spuren seiner Tränen entgültig zu verwischen. Dann landete er sicher vor dem Zelteingang.
Männer, Frauen und Kinder strömten aus ihren Zelten und auf ihn zu.
Er sah sich nervös um. Alle redeten durcheinander. Die Kinder zeigten aufgerekt mit dem Finger auf Peter und quasselten ununterbrochen.
Peter fühlte sich unwohl.
Plötzlich rief jemand hinter ihm in der seltsamen Sprache etwas laut über die Menge. Sofort wurde es stiller und die Leute entfernten sich missmutig.
Peter wirbelte herum.
Vor ihm stand Deer und lächelte Peter warm an.
Doch er konnte einfach nicht zurück lächeln.
Deer wirkte auf einmal viel stärker und gefährlicher, wenn Peter daran dachte, was er ihm gleich erzählen musste.
Deer runzelte beim Anblick von den Striemen an Peters Armen und seinen geröteten Augen die Stirn. Hastig sah Peter auf seine Füße.
"Peter", setzte Deer sanft an, "Ich freue mich, dich so schnell wiederzusehen."
Er streckte eine Hand einladend zum Zelt aus.
"Komm. Du kannst mir alles drinnen erzählen."
Zögerlich betrat Peter das Zelt und Deer folgte ihm.
"Setz dich", sagte Deer freundlich und deutete auf ein Fell, das am Boden lag. Peter ließ sich darauf nieder.
Plötzlich spürte er, wie ihm erneut Tränen in die Augen stiegen.
Er starrte weiterhin auf den Boden, um sich nichts anmerken zu lassen.
Deer setzte sich im Schneidersitz gegenüber von Peter auf ein weiteres Fell und faltete die Hände.
"Dann erzähl mal", sagte er ruhig.
Peter machte den Mund auf, doch er brachte kein Wort hervor. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte.
Würde Deer ihm glauben? Was würde er tun, wenn er alles wusste? Würde er Peter wegschicken?
"Es tut mir leid.", murmelte Peter schließlich und seine Stimme klang heiser. Er mied immernoch Deers Blick.
Der Häuptling runzelte erneut die Stirn.
"Ich glaube, ich weiß, was du erzählen willst.", erwiderte er langsam.
Peters Kopf ruckte augenblicklich hoch und er sah Deer an, dessen Gesichtsausdruck nun ernst geworden war.
"Nicht umsonst habe ich Wolf gebeten, dass er Tink zu dir schicken soll. Ich habe geahnt, dass du in Gefahr geraten könntest.", begann er und sah Peter mitleidig an. "Geht es deinen Freunden gut?"
Jetzt konnte Peter seine Tränen einfach nicht mehr zurückhalten. Der Gedanke an seine Freunde machte ihn traurig und wütend zu gleich. Wütend war er auf sich selbst - weil er so dumm gewesen war.
"Tut mir leid", nuschelte Peter erneut, doch dieses Mal entschultigte er sich für sein Heulen.
Deer griff hinter sich in einen kleinen Beutel, holte ein Stofftaschentuch hervor und reichte es Peter.
"Ist ganz frisch", sagte er aufmunternd und Peter lächelte ein wenig während er das Taschentuch entgegen nahm.
"Ich habe noch nie ein Taschentuch benutzen können", schniefte er dankbar und wischte sich die Tränen weg.
Deer lächelte leicht und winkte ab, als Peter es ihm zurückgeben wollte.
"Du darfst es behalten."
"Dankeschön", antwortete Peter erstaunt und stopfte es sich in seine Hosentasche.
"Nun", sagte Deer beruhigend, "Du brauchst keine Schuldgefühle zu haben. Erzähl mir einfach, was passiert ist."
Peters Unbehagen kehrte zurück, doch er riss sich zusammen. Deer wollte ihm nur helfen. Er würde Peter nicht wegschicken.
Peter holte tief Luft.
"Meine Freunde wurden von Piraten entführt", erzählte er niedergeschlagen. "Die Piraten haben mich erpresst. Sie wollen, dass ich sie ins Nimmerland bringe, sonst töten sie meine Freunde."
Vorsichtig musterte Peter Deers Gesicht.
Deer kratzte sich nachdenklich am Kinn.
"Das ist eine heikle Situation", murmelte er vor sich hin, "Aber dich betrifft keine Schuld, Peter. Sie wussten wohl schon vorher, dass es dich gibt und dass du ins Nimmerland kommen kannst. Fragt sich nur woher..."
Peter fiel ein großer Stein vom Herzen. Deer war ihm nicht böse!
"Also wirst du mich nicht fortschicken?", fragte er vorsichtig. Deer schüttelte sofort den Kopf.
"Natürlich nicht! Ich werde dir selbstverständlich helfen, deine Freunde zu retten. Hm... wie viele Piraten sind es?"
"Ein ganzes Schiff voll", antwortete Peter zögerlich, "Tut mir leid, die genaue Anzahl weiß ich nicht."
"Nicht schlimm", winkte Deer ab. "Für ein ganzes Schiff reicht unser Feenstaub jedenfalls nicht aus... Tja, ich schätze, du musst zu den Feen."
"Du willst also wirklich, dass ich die Piraten hierher bringe?", rief Peter erstaunt aus und sah Deer überrascht an.
"Es bleibt dir ja keine andere Wahl", sagte Deer schulterzuckend, "Wir werden mit den Piraten schon fertig. Außerdem kennen wir die Insel in und auswendig, den Piraten ist hier alles fremd."
Peter nickte nur. Er war immernoch überrascht.
"Ich werde Wolf holen lassen", fuhr Deer fort, "Er kennt den Weg und ist der einzige, der eine Fee als Freundin hat. Apropos: wo ist eigentlich Tinkerbell?" Deer sah Peter fragend an.
Er zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß nicht", murmelte er betreten, "Auf dem Schiff war sie plötzlich verschwunden..."
"Ach, sie ist eine Fee, sie weiß sich zu wehren", winkte Deer ab und erhob sich. Lächelnd sah er auf Peter herunter. Sein Blick wanderte auf Peters Unterarme.
"Wer hat dir das angetan?", fragte er mit ernster Stimme.
"Ach das." Peter wurde rot. "Das kommt von den Fesseln."
Deer schüttelte ungläubig den Kopf. "Manche Menschen sind echt schlimm." Er wandte sich ab und stapfte auf den Ausgang zu.
Er streckte den Kopf heraus und redete etwas mit jemandem auf der seltsamen Sprache. Dann drehte er sich lächelnd wieder zu Peter um.
"Wolf kommt gleich", sagte er, "Magst du was trinken?"
Erst jetzt bemerkte Peter wie durstig er war. Er nickte dankbar.
Deer füllte ihm Wasser aus einem Krug in einen Holzbecher und reichte ihn Peter. Er schlang das Wasser gierig herunter und leckte sich dann zufrieden über die Lippen.
"Vielen Dank!", sagte er und gab Deer den Becher zurück.
"Kein Problem", erwiderte Deer und stellte den Becher weg.
In diesem Moment betrat Weißer Wolf das Zelt.
Bei Peters Anblick riss er die Augen auf.
"Was machst du denn hier?", fragte er überrascht und sein Blick wanderte von Peter zu Deer und wieder zurück.
"Ich brauche deine Hilfe", antwortete Peter kleinlaut.
Deer seufzte tief. "Wir haben da so eine Art Notfall."
Wolfs Gesichtsausdruck verriet, dass er genau wusste, um was es sich bei diesem Notfall handelte.

Peter Pan - Wie alles begann 🏁Where stories live. Discover now