Der Astronom

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Weit draußen auf dem atlantischen Ozean trieb die Jolly Roger wie eine Nussschale auf der rauen See. Die Männer auf dem Schiff taten alles Erdenkliche, um den riesigen Wellen zu trotzen, doch es schien als würde sich die See gegen sie auflehnen, denn die Wellen wurden immer höher und das Wetter immer schlechter. Die Gischt spritzte bei der nächsten Welle am Bug des Schiffes so hoch, dass das gesamte Deck einmal überflutet wurde. Die überrumpelten Matrosen, die von der Welle umgeworfen worden waren, rappelten sich schnell wieder auf und machten sich wieder an der Takelage und dem riesigen, schwarzen Segel zu schaffen. Die Entschlossenheit und der Ehrgeiz war ihnen dennoch deutlich anzusehen, manche hatten sogar trotz ihrer misslichen Lage ein verschlagenes Grinsen auf dem Gesicht.

Durch das Grinsen, das schwarze Segel und vor allem durch die nackten Füßen der Männer war offensichtlich, dass es sich nicht um normale, ehrliche Seeleute handelte sondern um Piraten - und die vielen Waffen an Bord bestätigten das nur. Um genau zu sein war die Jolly Roger das gefürchteste Piratenschiff im ganzen Atlantik und ihr Kapitän, Jack Rackham, zählte zu den blutrünstigsten Piraten, die jemals die sieben Weltmeere befahren hatten. Es hieß dass er seinen eigenen Männern bei lebendigem Leibe sämtliche Knochen brach, Körperteile abhackte und sie dann von der Planke springen ließ, wenn sie einen Fehler machten oder ihm nicht mehr treu ergeben waren. Niemand legte sich mit Rackham an, denn jeder kannte die Folgen. Und sollte Rackham es auf jemanden oder etwas abgesehen haben, so war man verloren. Kein Schiff konnte vor der Jolly Roger fliehen und niemand entkam Rackhams Säbel. Er bekam immer alles was er erreichen wollte und wenn er hunderte von Menschen umbringen musste - Rackham schreckte vor nichts zurück.

Und er hatte ein neues Ziel.

Rackham stand am Steuer seines Schiffes und starrte auf das Meer. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt, doch das Wetter war so schlecht, dass man kaum etwas sehen konnte. Die Regentropfen liefen an seinem fettigen, strähnigen Haar herunter und tropften ihm kalt in den Nacken, doch ihn störte das kaum. Er war so besessen, dass ihn nur der Horizont interessierte, den er immer und immer wieder mit seinen Augen absuchte.

"JAMIE!", rief er auf einmal laut gegen den Sturm an und ein hagerer, dennoch gut aussehender Pirat mit einer großen Nase hastete die Stufen hoch auf das Oberdeck.

"Aye, Käpt'n?", fragte er laut, um den Sturm zu übertönen.

"Bring den Mann an Deck! Ich will jetzt mit ihm sprechen!"

"Aber Käpt'n ... der Sturm ...!"

"WEIGERST DU DICH ETWA MEINE BEFEHLE AUSZUFÜHREN?!", schrie Rackham seinen Ersten Offizier an, doch der zuckte nicht mal mit der Wimper.

"Nein Käpt'n", erwiderte er schlicht, "Ich hole ihn." Damit wandte er sich ab und verschwand unter Deck. Rackham sah ihm kurz nach. Er konnte von Glück sprechen, dass er einen so gefassten und zuverlässigen Offizier hatte, denn die Offiziere, die er früher gehabt hatte, hatte er alle erschossen, weil er sich darüber aufgeregt hatte, dass sie anfingen vor Angst zu stottern, wenn er sie anschrie. Nicht so bei Jamie. Ein offensichtlicher Glückstreffer für Rackham.

Stolz fuhr sich der Pirat mit dem Zeigefinger über seinen Oberlippenbart und verzog seinen Mund zu einem hämischen Grinsen. Dabei entblößte er offen seine gelblichen Zähne.

Ja, er war stolz. Er besaß das schnellste Schiff, die gefürchteste Piratenbande der Welt und den schlechtesten Ruf - doch er war immer noch nicht zufrieden. Er wollte nicht nur die Weltmeere beherrschen, er wollte mehr. Noch mehr Macht und noch mehr Reichtum und vielleicht würde der alte Astronom etwas dazu beitragen können.

Genau in diesem Moment tauchte Jamie wieder am Deck des Schiffes auf. Er zerrte einen alten, gefesselten Mann hinter sich her, der sich nicht mal wehrte. Rackham vermutete, dass er geschwächt war von der langen Reise.

Als der Mann die Stufen zum Oberdeck erklommen hatte, gab Jamie ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken und der Alte stürzte auf das Deck - genau vor Rackhams Füße.

"Aufstehen.", befahl der Pirat unbeeindruckt und beobachtete genüsslich, wie der Alte sich wieder mühsam aufrappelte. Als ihre Blicke sich trafen war Rackham überrascht. Er hatte erwartet die kalte Angst in den Augen des Mannes lesen zu können, doch dessen Gesicht war unbeweglich und ausdruckslos.

Rackham hielt sich am Steuer fest, als das Schiff von einer Welle geschaukelt wurde und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Der Alte hatte wohl noch nicht so richtig verstanden mit wem er es hier zu tun hatte!
Rackham zog seine Pistole und richtete den Lauf auf die Stirn des alten Mannes.
"Du weißt wer ich bin, Sternengucker. Und du weißt was ich von dir will." Rackham durchbohrte den Astronom mit seinem mörderischen Blick.
"Ja, ich kenne dich, Jack Rackham.", antwortete der Mann gelassen, "Und ich weiß, dass die Informationen, die ich habe, dir nichts nützen werden. Es ist bloß ein weiterer Stern, den ich gefunden habe, mitten im Zentrum des Universums."
Er lügt, dachte Rackham und legte einen Finger auf den Abzug. Erfreut bemerkte er das erste unruhige Flackern in den Augen des Mannes.
"Tatsächlich?", zischte Rackham und hörte sich dabei an wie eine Schlange. "Ich weiß aber ganz genau, dass das nicht einfach nur ein Stern ist, nicht wahr? Er ist anders als andere Sterne, nicht wahr? Er ist besonders."
Der Astronom hob sein Kinn ein wenig und durchbohrte Rackham mit seinem wütenden Blick.
"Es ist kein Stern.", sagte er dann leise.
"Aha, jetzt kommen wir der Sache näher.", frohlockte der Pirat und lächelte spöttisch, "Also was ist es dann, Sternengucker?"
Er konnte sehen, wie der Astronom mit sich selbst rang. Zuversichtlich gleich alle Informationen von dem Mann zu bekommen, lockerte Rackham seinen Griff am Abzug der Pistole ein wenig. Dem Mann blieb dies nicht verborgen, doch er machte nicht den Fehler Rackham zu unterschätzen. Der Astronom holte tief Luft.
"Es ist ein Planet", presste er hervor und starrte dem Piraten weiterhin in die dunklen Augen. "Ein Planet, der von innen sowie von außen eine ungewöhnlich starke Energie ausströmt, weshalb er leuchtet wie ein Stern. Ich habe noch nie mit einer so seltsamen Energie zu tun gehabt ... ich kann nicht erklären, was das ist und warum es so stark ist. Man könnte es als Magie bezeichnen."
Der Pirat leckte sich gierig über die Lippen. Das schrie doch geradezu nach Macht und Reichtum!
"Und was befindet sich auf dem Planeten?", fragte er begierig und starrte den Astronom ungeduldig an.
"Luft.", antwortete der langsam, "Land. Wasser. Alles was normale Erdenbewohner zum Leben brauchen." Plötzlich lächelte der Mann unverhohlen. "Ihr werdet nie diesen Planeten erreichen. Das ist unmöglich. Kein Mensch hat je die Erde verlassen und das Weltall hat keine Luft, in der wir atmen können. Außerdem ist der Planet viel zu weit entfernt. Ein paar Milliarden Lichtjahre vielleicht."
Rackham hatte keine Ahnung was Lichtjahre waren, aber er ließ sich nichts anmerken. Er wusste, dass dieser Mann noch etwas verbarg. Rackham schielte zu Jamie hinüber, der sich mittlerweile um das Steuer kümmerte, aber Rackham war sich sicher, dass er alles mitgehört hatte. Der Pirat wischte sich über das regennasse Gesicht, bevor er sich wieder dem Astronom zu wandte.
"Ich glaube aber, dass es doch einen Weg gibt dorthin zu gelangen.", sagte er und versuchte die nächste Welle zu ignorieren, die das Schiff wieder heftig schaukelte.
"Und selbst wenn", spottete der Astronom selbstgefällig, "Ihr werdet den Jungen nie finden."
Bevor Rackham reagieren konnte, war der Mann zu der Reling gehechtet und stürzte sich mit einem Kopfsprung in das aufgewühlte Meer. Verdutzt stand der Pirat mit der Pistole da und starrte auf die Stelle, an der der Astronom gerade noch gestanden hatte. Als er sich wieder fasste, ließ er die Pistole sinken und drehte sich zu Jamie um.
"Ein Jammer, Käpt'n", sagte der Erste Offizier laut, damit Rackham ihn über den Sturm hinweg verstand. "Ihr hättet bestimmt noch mehr aus ihm raus quetschen können."
Rackham nickte nachdenklich und ließ seinen Blick über das Meer und die Jolly Roger wandern. Ihm war klar, dass der Mann so gut wie tot war. Wenn er jetzt nicht ertrank, dann später vor Erschöpfung.
Dem Pirat gingen die Worte des Mannes nicht mehr aus dem Kopf.
Er stieß einen leisen Seufzer aus, sodass Jamie ihn nicht hörte und setzte dann seine üblich mürrische Miene auf.
"Jamie, du bleibst am Steuer und gibst der Mannschaft die Befehle. Ich verschwinde in meiner Kajüte und will nur gestört werden, wenn Land in Sicht ist, kapiert?!" Er wartete Jamies Antwort nicht ab und stapfte auf die Niedergangstreppe zu, um zu seiner Kajüte runter zu steigen. Er warf einen letzten Blick auf die stürmische See, bevor er unter Deck kletterte.
Ihr werdet den Jungen nie finden.

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