Ein ungutes Gefühl

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"Es tut mir so leid, Peter", jammerte Tootles später in ihrem Versteck, einer staubigen Dachkammer. Ein älteres Ehepaar hatte ihnen vor ungefähr fünf Jahren erlaubt dort zu leben, unter der Bedingung, falls die Jungen mal erwischt werden sollten, dass sie das Ehepaar nicht in die Sache mit reinzogen. Mittlerweile waren beide durch Alterschwäche gestorben und hatten die Jungen sich selbst überlassen. Zwar stand jetzt das gesamte Haus leer, aber die Jungen wagten es nicht den unteren Teil des Hauses zu betreten, weil oft Männer vorbeikamen, die überlegten, was sie mit dem Haus anstellen sollten. Bis jetzt waren sie noch nicht entdeckt worden, aber jeder von den Jungen wusste, dass das Haus wahrscheinlich abgerissen werden würde. Sie konnten nur hoffen, dass dies nicht möglichst bald geschah.
Die Dachkammer war dunkel und eng für elf kleine Jungen, aber sie hatten ein Dach über dem Kopf und das war, so wie Peter fand, die Hauptsache.
Vorher hatten sie allesamt auf der Straße gelebt und mussten sich mit Ratten, Müll und dem täglichen Dauerregen Londons abgeben. Sie konnten von Glück reden, dass ihnen eine Gelegenheit wie diese Dachkammer geboten worden war.
"Es ist alles gut, Tootles.", sagte Peter ruhig, "Das kann jedem mal passieren. Kannst du dich noch an unsere Plünderei im Park erinnern? Slightly ist im Matsch ausgerutscht, weißt du noch? Wenn Curly nicht gewesen wäre, säße er im Gefängnis. Wir passen alle aufeinander auf. Irgendwann wirst du auch einem von uns helfen müssen, garantiert." Peter schenkte Tootles ein leichtes Lächeln. Tootles strahlte zurück.
"Danke Peter", murmelte er und errötete. Peter musste grinsen. Er stand auf und ging hinüber zur Dachluke.
"Wo willst du hin?", fragte Tootles nervös.
"Zu den anderen", antwortete Peter, "Du kannst gerne hier bleiben. Ich hab Lust noch ein paar Leute zu ärgern." Er grinste frech und verschwand in der Dachluke.
"Sei vorsichtig!", rief Tootles ihm nach.
Ja, ja ...
Er wollte Spaß haben und sich nicht in der Dachkammer verkriechen. Er wollte Risiko.
Peter trat aus dem Haus und auf die Straße. Er sah sich nach allen Seiten um. Von den Jungen war nichts zu sehen. Wahrscheinlich streiften sie wieder durch die Gassen.
Peter ging die Straße runter bis zur nächsten Abzweigung und blieb wieder stehen. Er kannte diese Wege in und auswendig, aber er wusste nicht wo die anderen Jungen waren und er hatte keine Lust ziellos durch die Gegend zu wandern. Also schlug er einfach den Weg Richtung Park ein und hoffte, dass sie dort waren.
Es dauerte nicht lange, da hatte er den Park erreicht. Er war nicht besonders groß und auch nicht besonders sauber, aber das lag daran, dass sie sich in einem abgeschiedenen Teil Londons befanden, der von Kriminalität und Armut heimgesucht war. Deshalb musste Peter besonders gut aufpassen wo er hin lief und wie die Leute sich verhielten, denn hier konnte man niemanden trauen.
Peter sah sich um, doch er konnte keine Jungen ähnlichen Gestalten erkennen.
Wo steckten die denn bloß?
Er schlenderte durch den Park und ignorierte dabei alle anderen Leute. Ihm war ein wenig unwohl alleine durch den Park zu laufen und er hatte das ungute Gefühl, dass man ihn an jeder Ecke beobachtete. Plötzlich wünschte er sich, er wäre daheim geblieben. Dort hatte er wenigstens Tootles. Dennoch zwang er sich weiter zu gehen. Irgendwo mussten die anderen ja sein.
Ein Bettler am Wegrand starrte ihm komisch hinterher, als Peter vorbeiging. Peter versuchte so gut es ging ihn nicht zu beachten, aber sein ungutes Gefühl wurde er nicht los. Schließlich entschied er sich dazu, zu rennen.

Völlig aus der Puste kam er am Ende des Parkes an. Er stützte die Hände auf die Oberschenkel um kurz zu verschnaufen. Tief durchatmend sah er sich nach anderen Menschen um, aber momentan war niemand mehr in seiner Nähe. Und von den Jungen fehlte jede Spur.
Peter gab auf. Er hatte keine Lust mehr zu suchen. Er würde zur Dachkammer zurückkehren und dort gemeinsam mit Tootles auf die anderen warten.
Hoffentlich war ihnen nichts passiert...
Aber was sollte ihnen schon passiert sein? Curly und Nibs gehörten zu den perfekt ausgebildetsten Taschendieben und auch Slightly hatte einiges drauf. Mit ihnen würde keinem der Jungen etwas geschehen, da war Peter sich sicher. Er war stolz auf seine Freunde.
Es missgefiel ihm den ganzen Weg durch den Park zurück zu gehen, aber er hatte keine andere Wahl, es war der schnellste Weg. So ohne seine Freunde fühlte er sich ziemlich schutzlos.
Mit vorsichtigen Schritten lief er die Wege entlang, seine Füße knirschten unter dem Kies. Dieses Mal beachteten die Leute ihn kaum und er tat es ihnen gleich. Ein Schauer nach dem anderen jagte ihm über den Rücken und er versteifte sich.
Warum fühlte er sich im Park auf einmal so unsicher? Das war doch sonst noch nie so gewesen... Irgendetwas war anders. Auch die Leute hier waren anders, wie Peter auffiel. Nicht vom Aussehen anders, sondern vom Verhalten, denn jetzt starrten ihn alle wieder an.
Er hatte ein komisches Gefühl im Magen. Zuerst war es kaum zu spüren, doch dann wurde ihm auf einmal so schlecht, dass er stehen blieb und seine Hand in den Bauch drückte. Schwer atmend lehnte er sich gegen einen Baum und schloss kurz die Augen um sich zu beruhigen. Die Leute, die ihn anstarrten, waren ihm egal. War das Obst vielleicht schlecht gewesen? Aber es hatte alles normal geschmeckt...
Peter zwang sich weiter zu laufen. Die Übelkeit hatte noch nicht nachgelassen und wurde immer schlimmer. In gebückter Haltung und die Arme in den Bauch gepresst schleppte er sich vorwärts. Warum hörte es nicht auf...?
Er wollte sich am liebsten jetzt einfach ins Gras legen, aber das tat er natürlich nicht. Er war so schon auffällig genug.
Plötzlich wurde vor seinen Augen alles schwarz. Er konnte nichts mehr sehen und war sich sicher, dass er gleich ohnmächtig werden würde, doch er spürte immer noch den Kies unter seinen nackten Sohlen. Er zitterte am ganzen Körper und wagte nicht sich zu bewegen. Er hatte das Gefühl sich gleich übergeben zu müssen, doch dazu kam es nicht, denn er wurde auf einmal von den Füßen gerissen.
Für ein paar Sekunden lang spürte er gar nichts außer Kälte, Stille und Dunkelheit. Seine Angst und seine Übelkeit waren verschwunden.
Sanft wie eine Feder landete er mit den Füßen auf weichem Gras. Er hörte eine dunkle unverständliche Stimme neben sich, die eine seltsame Sprache sprach und wie ein Echo in seinen Ohren wiederhallte. Vor seinen Augen war immer noch alles dunkel. Seine Gliedmaßen fühlten sich an wie Gummi. Er versuchte sich zu erklären was passiert war, aber er fühlte sich zu schlapp um darüber nachzudeken.
Das letzte was er spürte war der Wind in seinem Haar.
Dann verlor er das Bewusstsein.

Peter Pan - Wie alles begann 🏁Where stories live. Discover now