Feenstaub

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Das Zelt war sehr geräumig und war viel größer, als es von außen wirkte.
Peter sah sich um und erkannte Dinge wie kleine Schüsseln, Unmengen an Felldecken, Mehrere Köcher mit Pfeilen darin und Bögen dazu, andere Waffen und Betten aus Holz, die ausgelegt waren mit viel Fell.
Überall sah Peter wieder die seltsamen Symbole, die auch auf Wolfs Kleidern drauf waren und die Zeltwände waren geschmückt mit Zeichnungen, die wohl Nimmerland darstellen sollten.
Eines war Peter sofort klar: In so einem Zelt würde er tausendmal lieber wohnen, als in der alten, staubigen Dachkammer. Hier war es einfach viel gemütlicher drin und sogar ein wenig größer.
Ihm entfuhr ein leiser Seufzer, was Wolf und Deer leider sofort bemerkten.
"Alles in Ordnung?", fragte Deer mitfühlend und Peter konnte sich nicht daran erinnern, dass jemals ein erwachsener Mann so nett zu ihm gewesen war.
"Klar", sagte er hastig und tat so, als würde er immernoch interessiert das Zelt betrachten.
"Was gibt es noch so für Wesen hier?", wechselte er schnell das Thema, als er eine große gläsenerne Kugel auf einem Federkissen staunend musterte, "Kobolde? Seeungeheuer? Trolle?"
"Alles was du dir in deinen Träumen vorstellen kannst", antwortete Deer lächelnd, "Die Fantasie der Kinder ist wirklich unendlich groß. Manches ist auch nicht so sonderlich vorteilhaft, so wie die Menschen fressenden Spinnen - welches Kind hat sich das nur ausgedacht - aber wir respektieren sie, genau wie alle anderen hier, denn in gewisser Weise sind wir alle gleich." Deer lachte kurz und laut auf. "Bestimmt hast du auch etwas dazu beigetragen." Er zwinkerte Peter zu.
Peter setzte sich unaufgefordert auf den Boden und stützte den Kopf in die Hände. Er musste das alles erstmal verarbeiten.
"Die Feen sind das älteste Volk hier", erzählte Deer weiter, "Sie wissen alles über Nimmerland. Und sie sind für die Beschützung der Magie und der Schätze hier zuständig.
Eine Fee wird durch das erste Lachen eines Babys geboren. Sie besitzen in ihrem Feenbaum eine große Ansammlung an Magie, die ihnen die Fähigkeit gibt zu fliegen. Wenn sie fliegen verstreuen sie Feenstaub. Durch dieses Feenstaub können auch andere Lebewesen fliegen, allerdings nur durch eine begrenzte Zeit. Ich bin ein einziges Mal geflogen. Das Gefühl war unbeschreiblich."
Nun hatte Peter interessiert den Kopf gehoben. Menschen konnten nicht fliegen... Aber Deer sah nicht so aus, als würde er lügen. Der Häuptling wandte sich an Wolf.
"Wolf ist schon öfter geflogen", erzählte er Peter.
Wolf nickte lächelnd. "Die Feen fassen nur sehr selten Vertrauen in andere Wesen. Sie sind der Meinung, dass die Sicherheit der Magie zu sehr auf dem Spiel steht. Sie haben natürlich Recht, aber ich habe eine kleine Feenfreundin, die mir voll und ganz vertraut. Sie hat mich das Fliegen gelehrt." Auf Wolfs Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. "Es gibt nichts besseres", schwärmte er.
Peter kratzte sich am Kopf.
"Das würde ich auch gern mal machen.", murmelte er vor sich hin.
"Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering", erwiderte Wolf bedauernd. "Du bräuchtest das Vertrauen einer Fee. Und wie gesagt, sie vertrauen so gut wie niemandem."
"Wie komme ich zurück?", fragte Peter plötzlich. Das war eine der Fragen, die ihm schon die ganze Zeit lang auf der Seele lag, doch irgendwie hatte er sich bis jetzt nicht getraut sie laut auszusprechen.
"Wie bitte?", fragte Deer mit einen überraschten Gesichtsausdruck und sah Peter an.
"Wie komme ich zurück nach London?", fragte er etwas vorsichtiger, "Was soll aus meinen Freunden werden, wenn ich nicht mehr da bin? Wer soll sie anführen?"
Deer schwieg einen Moment lang.
"Ich weiß, dass das Nimmerland entscheidet, wann wir auf die Erde kommen und auch, wann wir wieder zurückkommen...", sagte er dann leise, "Aber nachdem wir unsere Zeit auf der Erde verbracht haben, kann man nicht mehr zurückkehren."
Peter vergrub das Gesicht in seinen Händen. Das konnte doch nicht wahr sein...
Sicher, das Leben im Nimmerland wäre für ihn garantiert ein tolles Abenteuer, voller Gefahren und ohne jegliche Langeweile. Und stehlen müsste er dann auch nie mehr. Aber ohne die anderen Jungen wollte er hier nicht leben.
Peter raufte sich die braunen Haare und ließ seinen Blick seufzend durch das Zelt schweifen. Plötzlich hatte er einen Einfall.
"Kannst du deine Feenfreundin nicht überreden, mir etwas Feenstaub zu geben?", fragte er Wolf aufgeregt.
Wolf tauschte einen gequälten Blick mit Deer. Dann holte er tief Luft.
"Ich besitze Feenstaub von ihr", antwortete er dann. Peters Gesichtsausdruck hellte sich augenblicklich auf.
"Aber der ist eigentlich nur für Notfälle gedacht", beeilte Wolf sich zu sagen, als Peter gerade den Mund aufmachte.
"Bitte, das ist ein Notfall!", bettelte Peter. "Ich will nur so viel, sodass ich zurück nach London komme!"
Deer lächelte leicht. "Da müsste eine kleine Prise eigentlich reichen.", sagte er.
"Aber...", prostierte Wolf, "Der Feenkönig sagte -"
Deer hob eine Hand, um Wolf zum Verstummen zu bringen. Wolf kniff ungehalten die Lippen aufeinander.
"Ich glaube eine kleine Prise wird selbst der Feenkönig entbehren können.", sagte Deer beruhigend zu Wolf. Er wandte sich an Peter.
"Du bekommst deine Prise Feenstaub."
Peter strahlte über das gesamte Gesicht. "Danke, Sir!", rief er und musste sich beherrrschen, nicht zu jubeln. Endlich wieder zurück zu den anderen Jungen!
Deer grinste breit. "Du brauchst mich nicht Sir zu nennen.", lachte er, wurde dann aber sofort wieder ernster. "Aber sei gewarnt - wenn du Nimmerland verlässt, wirst du wahrscheinlich nie wieder zurückkommen können. Und damit wirst du auch nie herausfinden, warum du hier gelandet bist."
"Das ist mir egal", sagte Peter fröhlich, "Ich will nur zu meinen Freunden zurück!"
Deer seufzte tief, dann lächelte er wieder, doch dieses Mal war es ein trauriges Lächeln. "Weißt du, wir konnten vorhersehen, dass du kommst. Wir wussten nur nicht warum... Aber ich will dich nicht aufhalten. Ich kann verstehen, dass du nach Hause willst. Wolf, hol den Feenstaub."
Wolf drehte sich wortlos um und verließ eilig das Zelt. Peter wusste, hätte das Zelt eine Tür gehabt, dann hätte Wolf diese jetzt zugeknallt. Dass Peter den Feenstaub benutzen wollte, schien ihn kein bisschen zu erfreuen.
"Ich scheine Wolf gekränkt zu haben", sagte er traurig zu Deer, der selber nicht sonderlich glücklich aussah.
"Ja, ich kann nicht leugnen, dass auch ich gekränkt bin", antwortete Deer leise.
"Komm, wir gehen schon mal nach draußen, Peter."
Peter erhob sich. Er war irgendwie niedergeschlagen. Er würde Nimmerland vermissen, obwohl er kaum etwas davon kannte. Er hatte das Gefühl, als hätte er bereits eine innerliche Bindung zu dieser Welt aufgebaut.
"Also... ich werde nie wieder herkommen können... richtig?", fragte Peter, als sie das Zelt verließen und hinaus in die strahlend helle Sonne traten.
"Richtig."
"Außer durch's Fliegen?"
"Ganz genau. Aber wie gesagt, die Feen..."
"...vertrauen fast niemanden, ich weiß", unterbrach Peter Deer und seufzte. "Und Sie sind ganz sicher, dass ich mir das alles nicht einbilde?"
Deer drehte sich zu ihm um.
"Das musst du selbst entscheiden.", war seine Antwort. Peter war irritiert. Als er gerade nachfragen wollte, kam Wolf zurück. In seiner Hand hielt er einen goldfarbenen, kleinen Beutel. Als er ihn öffnete, glomm ein helles Licht aus dem Inneren des Beutels, das auf Peter irgendwie eine beruhigende Wirkung hatte. Er verspürte den Drang das Licht zu berühren.
"Das ist der Feenstaub", erklärte Deer, "Wenn Wolf dich gleich damit überschüttet, musst du sofort abheben, denn sonst kann es sein, dass die Erde nicht rechtzeitig erreichst und ins Meer fällst. Du musst Vertrauen haben und daran glauben, dass du es schaffen kannst, sonst funktioniert es nicht. Denk an etwas Schönes, an etwas, das dich glücklich macht. Und flieg auf den Stern zu!"
Mühsam riss Peter sich vom Anblick des Feenstaubs los und nickte. Langsam wurde er ein wenig nervös. Wolf hob den Beutel über Peters Kopf.
"Auf Wiedersehen, Junge", lächelte Deer, "Es war mir eine Freude dich kennenzulernen."
"Auf Wiedersehen", nuschelte Peter vor sich hin. Der Gedanke, Nimmerland für immer zu verlassen, wurde für ihn immer unerträglicher, doch er zwang sich an Tootles und die anderen Jungen zu denken.
"Leb wohl", sagte auch Wolf, viel freundlicher, als er gerade noch ausgesehen hatte. Peter lächelte steif zurück.
Wolf schüttelte eine kleine Prise Feenstaub über Peters Kopf. Peters spürte ihn kaum, aber was er spürte, war einfach wundervoll. Eine unglaublich intensive Wärme breitete sich in seinem gesamten Körper aus, aber nicht unangenehm, nein, er fühlte sich einfach geborgen und sicher. Und dann stieg er wie von selbst plötzlich in die Luft hinauf.
Ihm kam das kein bisschen komisch vor, er fühlte sich eher so, als würde er das jeden Tag machen.
Er sah hinuter auf das Dorf. Wolf und Deer wurden langsam immer kleiner. Er sah, wie sich nun auch noch eine andere Person, zu ihnen gesellte - Tigerlily.
Sie hob die Hand gen Himmel und winkte Peter zu. Peter winkte zurück. Sonst hätte er sowas wahrscheinlich niemals gemacht, aber jetzt war ihm alles egal, er war einfach nur glücklich. Mit einem Lächeln auf den Lippen flog er auf den Stern zu.

Peter Pan - Wie alles begann 🏁Where stories live. Discover now