21. Kapitel

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Emilia öffnete mit Romys Schlüssel leise die Tür, auch wenn weit und breit niemand war, der sie hätte hören können. Sie schämte sich. Irgendwann in der letzten Stunde hatte sie die Entscheidung getroffen. Daran konnte sie nicht mehr rütteln, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie Romy betrog.

Michael Lindner, Romys Vater, hatte irgendetwas mit der Geschichte zu tun, das hatte sie spätestens begriffen, als sie heute morgen den Zettel gefunden hatte, den er Romy am Mittwoch geschrieben hatte. Nur, dass es nicht sein Zettel war. Die Schrift auf dem Zettel gehörte nicht zu Michael.

In irgendeiner Weise war er in das Geschehen verwickelt und Emilia wusste, dass Romy das mit Sicherheit nicht einsehen würde, deshalb hatte sie beschlossen, allein nach Informationen über ihren Vater zu suchen.

Sie zog ihre Schuhe aus und betrat das Arbeitszimmer von Romys Vater. Es war gleich die erste Tür, die vom Hausflur links abbog.

An dem Fenster, das zur Straße zeigte, war der Rollo hinuntergelassen, das Fenster jedoch, von dem aus man den kleinen Weg, der in den Hinterhof führte, sehen konnte, war gekippt. Alle vier Wände waren mit Schränken ausgekleidet, in denen sich Ordner über Bücher über Zettel über Bücher stapelten. In der Mitte des Zimmers stand ein massiver Holzschreibtisch und davor ein Drehstuhl.

Romy hat dir ihren Schlüssel gegeben, du darfst hier sein!, flüsterte sie sich selbst zu, aber es kam ihr so unglaublich falsch vor.

Sie drehte dem Fenster nur ungern den Rücken zu und machte sich daran, die Schubladen des Eichenschrankes, der gleich rechts neben der Tür stand, aufzuziehen.

Ein Steuererklärungs-Handbuch, ein Sicherheitszertifikat für eine besondere Straßenlaterne, Fotoecken, ein Aufsatz über Streptokokken, Rechnungen, eine Postkarte aus Peru, ein Schwarzwaldreiseführer, eine abgehakte To-do Liste, nichts. Absolut nichts Interessantes.

Emilias Herz klopfte. Sie dachte daran, wie abstrakt Angst doch war. Sie hatte im letzten Monat kein einziges Mal Angst um ihre Eltern oder vor den Wächtern gehabt. Sie hatte Angst gehabt vor der Zimmerdecke, davor, dass sie sie erdrückte und Angst vor dem Blick aus dem kleinen Fenster auf die Rosengasse. Sie hatte Angst vor ihren Gedanken gehabt, was sie mit ihren Gefühlen anstellten. Deshalb hatte sie versucht, nicht viel nachzudenken. Und sie hatte Angst vor Romys Augen. Weil sie so tief waren. Weil sie viel zu viel gesehen hatten. Weil sie nicht mehr lachten. Weil sie das nie wieder tun würden.

Angst war nicht rational. Angst konnte man nicht vorherbestimmen. Angst war ein völlig irrational funktionierender kleiner Dorn, der sich in ihre Seele bohrte und genau in diesem Moment hatte sie wieder Angst. Angst vor den ganzen Aktenordnern, die sie mit ihrer Macht auszulachen schienen. Angst davor, dass sie auf sie fallen und sie begraben würden.

Emilia ging zu dem großen Schreibtisch. Da stand ein Foto. Ein Foto von Romys Eltern. Eine Gänsehaut zog sich über Emilias Rücken. Elizas Gesicht war mit einem Edding geschwärzt. Man konnte sie nur an ihren dichten blonden Locken erkennen. Romys Vater hat eine seltsame Art mit Trauer umzugehen, dachte sie. Sie zog eine der Schubladen auf. Aber wer hat das denn nicht? Ich bin selbst das beste Beispiel für seltsames Verhalten.

Und dann stutzte sie. Da lagen gleich mehrere Briefumschläge. Allesamt geöffnet. Auf allen stand: An Romy Lindner. Emilia nahm sie in die Hand. Auf keinem der Briefe stand ein Absender. Sie begann zu lesen. Manche waren von jungen Mädchen geschrieben, manche von mittelalten Männern, zwei alte Frauen und sogar ein älteres Ehepaar hatten Romy geschrieben. Es waren Fanbriefe. Ganz normale, nette Fanbriefe. Wie toll sie doch geturnt hätte. Dass sie bewundert wurde. Dass man es toll fand, dass Deutschland eine Goldmedaille bekommen hatte, dass man ein Autogramm wollte, dass man sie gerne mal kennenlernen würde. So weit Emilia das sah, waren das harmlose Briefe.

Warum hatte Romys Vater diese Briefe abgefangen? Wieso hatte Romy sie nicht lesen dürfen. Wusste er irgendwas? Warum sagte er nichts? War er deshalb verschwunden?

In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Romy. Emilia zuckte ertappt zusammen. Sie spürte, dass sie nicht würde lügen können. Sie nahm die Briefe und eilte zur Tür.

„Romy, ich...", setzte sie an, aber Romy ging wortlos an ihr vorbei in die Küche.

„Was ist passiert?" Emilia lief ihr hinterher.

„Nichts ist passiert. Alan ist unschuldig." Romy sah so müde aus. So unglaublich müde. Wann sie wohl das letzte Mal richtig aus und durchgeschlafen hatte? Ohne Albträume? Romys Augen besaßen wieder diese unglaublich traurige Tiefe, die Emilia Angst einjagte. Augen sind die Fenster zur Seele, hieß es ja. Das war das Gruselige, denn das bedeutete, dass Romys Seele grau und tief war und nicht mehr lachte.

Emilia zeigte ihr die Briefe, die sie gefunden hatte. „Hast du eine Ahnung, warum dein Vater die vor dir versteckt haben könnte?"

„Ich kenne meinen Vater nicht mehr, Emilia. Ich weiß überhaupt nichts."

„Lass uns mal deine Handyaufnahme anhören. Dann wissen wir, ob wir Alan und seine Freunde endgültig ausschließen können."

„Dann haben wir keine Verdächtige mehr."

Emilia nickte und spielte das Gespräch ab, das Romy vorhin beim Brunnen geführt hatte.

„Wir müssen Leute befragen, was ihre Lieblingsfarben sind und dann in Mathe die Prozentsätze von denen, die dunkle Farben mögen, ausrechnen? Dein Ernst? Haben die dir das abgekauft?"

„Mich würde es wundern."

Emilia hörte die Aufnahme aufmerksam an. Als sie am Ende war, begann sie, sie nochmal von vorne zu spielen und dann noch mal und noch mal.

„Nein", sagte sie schließlich. „Keiner von denen stand mal vor meiner Tür. Da bin ich ganz sicher. Was ist mit deinem Alan? Seine Stimme habe ich jetzt noch nicht gehört."

„Er ist nicht mein Alan und er ist unschuldig."

„Er ist der Einzige, den wir jetzt noch verdächtigen können."

„Er war es nicht."

„Romy..."

„Bitte Emilia. Lass es. Ich bin so kaputt. So fertig. Lass uns heute bitte niemanden mehr verdächtigen."

„Okay. Aber einen Gefallen tust du mir heute bitte noch. Ruf das Handy von Michael an. Irgendwo muss er sein."

Romy nickte, nahm ihr Handy und begann zu wählen. „Der gewünschte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar. Sie können nach dem Signalton eine Nachricht hinterlassen. Piep."

„Hallo Papa. Ruf mich bitte zurück, wenn du das abhörst. Wo bist du? Ich... ich mache mir echt langsam Sorgen um dich. Ich hoffe, dir ist nichts passiert. Wir brauchen dich hier. Komm bitte zurück, wo immer du gerade auch bist. Dein Zuhause ist nicht das Büro in deiner Firma. Dein Zuhause ist... hier." Romy legte auf.

„Mehr können wir erstmal nicht tun. Der taucht bestimmt wieder auf."

„Ich gehe heute nicht ins Training. Das schaffe ich nicht mehr", murmelte Romy.

„Komm zu mir. Du kannst bei mir übernachten. Meine Eltern würden, denke ich, ausrasten, wenn ich heute nicht zu Hause schlafe. Bei dir geht's also nicht. Aber bei mir kannst du bestimmt schlafen."

„Danke."

MedaillenblutOn viuen les histories. Descobreix ara