11. Kapitel

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Sie hetzte durch die Straßen des Dorfes und versuchte ihre Gedanken zu klären, aber Alan wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Wir haben nichts damit zu tun. Ich kann dir das erklären, hörte sie ihn immer wieder sagen. Was, wenn er wirklich nichts damit zu tun hatte? Was, wenn sie ihn komplett falsch einschätzte?

Sie war am Dorfrand angekommen und entdeckte einige Büsche Winterjasmin. Sie hatte gehofft, noch irgendwelche Blumen zu finden. Mit ihrem Taschenmesser schnitt sie ein paar Zweige ab. Sie stand unter den ausladenden Blüten wankend auf und versuchte das Messer wieder in ihre Bauchtasche zu zwängen. Da ihre Arme voll mit dem Winterjasmin waren, gelang es ihr nicht. Nach ein paar erfolglosen Versuchen ließ sie das Taschenmesser schließlich in ihren rechten Stiefel gleiten.

Auf der rechten Seite begann jetzt der Wald, aber linkerhand fing die Teerstraße, die hinauf zum Friedhof führte, an.

Romy folgte der Straße und ihre Stiefel hinterließen Spuren im Neuschnee. Normalerweise fuhr man hier mit dem Auto oder wie sie mit dem Fahrrad hoch. Zu Fuß brauchte man mindestens eine Viertelstunde. Viele Dörfler nannten diesen Berg den Friedhofshügel, aber dort oben war nicht nur der Friedhof, sondern auch die Kirche.

Jedes Weihnachten war sie mit ihren Eltern hierher gekommen, hatte mit Emilia und den anderen Kindern nach dem Gottesdienst die offiziell größte Schneeballschlacht des Jahres veranstaltet, hatte verstecken gespielt, Schneemänner gebaut oder war in den Bäumen geklettert.

In letzter Zeit hatte sie dem Friedhofshügel viele Besuche abgestattet, weil sie frische Blumen auf das Grab legen wollte oder weil sie einfach nur den Stein anstarren und sich in die gähnende Leere, die der Tod gebracht hatte, fallen lassen wollte.

Die Zeit, in der sie mit den anderen Kindern um die Kirche getobt war, schien ihr in endloser Ferne zu liegen. Dieses Weihnachten würden sie wahrscheinlich gar nicht zur Kirche gehen. Dieses Weihnachten würde sich wahrscheinlich gar nicht von den anderen Dezembertagen unterscheiden. Höchstens vielleicht dadurch, dass man in den Fenster der Nachbarn hell erleuchtete Christbäume und glückliche Familien sehen konnte. Wie sie so über Weihnachten nachdachte, wurde ihr klar, dass es bis dahin nur noch weniger als zwei Wochen waren.

Als Romy durch die Reihen der Grabsteine wanderte, hörte sie auf einmal ein Geräusch. Ein winzig kleines Geräusch, aber die Haare auf ihren Armen stellten sich auf. Es klang, als wäre jemand auf einen Ast getreten.

Sie fuhr herum. „Ist das wer?" Sie ärgerte sich, dass ihre Stimme so hoch und dünn klang.

Das Mädchen wartete noch eine Weile, aber als sich nichts rührte, sagte sie sich, dass es auch ein kleines Tier gewesen sein konnte.

Vor dem Grab ihrer Mutter kniete Romy sich in den Schnee. Sie legte den Winterjasmin auf die gefrorene Erde und wischte mit den nun freien Händen den Schnee von der Grabplatte: Eliza Lindner.

Dein Tod hat mein Leben von grundauf verändert, Mama. Emilia ist fort. Ich weiß nicht, ob es deinetwegen ist oder nicht. Ich weiß überhaupt ziemlich wenig. Ich bin völlig unwissend.


~


Sie stand im Schatten eines Baumes und beobachtete das Mädchen. Das war doch total kindisch, wie sie da vor dem Grab hockte und mit dem Stein sprach.

Romy Lindner holte etwas aus ihrer Tasche hervor und legte es zu dem anderen Gestrüpp auf das Grab.

„Für dich", hörte sie sie sagen. Gottchen, wie albern war das denn bitte?

Die Medaille! Es war die Medaille! Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Da war sie. Nur wenige Meter von ihr entfernt!

Sie beugte sich vor, um besser sehen zu können, aber mit ihrem Ärmel streifte sie einen Ast und Schnee rieselte herab.


~


Romy fuhr wieder herum. Da war jemand! Ihr Herz begann zu rasen.

Was, wenn das der Mörder ihrer Mutter war, wenn er hier wartete um auch sie zu töten?

Langsam stand sie auf. Klopfte sich den Schnee von der Hose. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals solche Angst gehabt zu haben.

Du leidest an Verfolgungswahn, versuchte eine kleine Stimme in ihrem Inneren ihr Mut zu machen. Das bildest du dir bestimmt nur ein.

Aber als sie sah, wie sich ein Schatten hastig hinter einen Baum drückte, wurde ihr diese Hoffnung zerstört.

Sie rannte davon. Ließ die Medaille einfach auf dem Grab liegen. Rannte auf das Friedhofstor zu und die Teerstraße hinunter.

Die Angst ließ sie auch unten im Dorf, als sie längst sicher sein konnte, dass ihr niemand folgte, nicht los.

Wenn Emilia bloß hier wäre, dachte Romy. Ich bräuchte dringend mal wieder jemanden, der mich in den Arm nimmt und sagt, dass alles nur halb so schlimm ist und dass alles gut wird.

Vom Friedhofshügel wehte jetzt Glockengeläut zu ihr hinunter. Es schlug sechs Uhr und es war schon dunkel.

Romy, die nun nicht mehr rannte, schlug den Weg zur Rosengasse ein. Der Hauseingang, in dem Alan sonst immer mit seinen Freunden stand, war leer.

Nur ein einsames rot-weiß-gestreiftes Absperrband, das langsam vom Schnee zugeweht wurde, zeugte noch davon, dass hier vor mehr als einem Monat ein Mord stattgefunden hatte. Die Polizei war längst abgerückt.

Vielleicht konnte sie ja etwas finden, das die Polizei übersehen hatte: Eine versteckte Nachricht, ein Haar, einen Kleidungsfetzen, einen Fingerabdruck oder irgendwelche anderen Zeichen. So konnte das schließlich nicht immer weitergehen. Irgendwas musste passieren, damit man bei der Festnahme des Mörders weiter kam.

Romy tastete mit den Fingern die Steinwand ab, konnte aber nichts entdecken.

Dann legte sich auf einmal von hinten eine Hand auf ihren Mund und Romy konnte nicht mal mehr schreien.

MedaillenblutWhere stories live. Discover now