13. Kapitel

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Sie flüsterten kurz und begannen dann beide aus voller Kehle zu singen: „Aux Champs Elysées, aux Champs Elysées..."

„Tickt ihr noch ganz richtig?", schrie Jemand von draußen.

„Au soleil, sous la pluie, à midi ou à minuit..."

„Hört ihr schlecht? Ihr sollt Ruhe geben!"

„Il y a tous ce que vous voulez aux Champs Elysées."

„Kommt doch zu uns rein. Das würde ich mir nicht von zwei minderjährigen Mädchen bieten lassen..." Romy hoffte, dass die Männer vor der Tür nichts von dem kleinen Zittern in ihrer Stimme bemerkten.

„Sie hat Recht, verdammt", sagte eine Stimme und sie hörte Schlüssel klappern.

„Unser Plan hatte denen ein kleines bisschen mehr Intelligenz zugedacht", flüsterte Romy entsetzt. „Mit diesem winzigen Messer kommen wir niemals gegen mehrere erwachsene Männer an."

„Halt", rief jemand anderes.

Die beiden Mädchen seufzten erleichtert. „Das ist irgendein Trick. Geh da nicht rein."
„Aber..."

„Kein Aber. Unsere Aufgabe ist ganz klar, diese Tür nicht zu öffnen. Hier!" Etwas klackte. „Nimm das. Dann können die da drinnen ihre Scheiße abziehen und wir können schlafen."

„Danke Kumpel. Hast was gut."

„Ach was. Sind doch nur Oropax."

Romy hätte am liebsten laut aufgelacht. So war das ja noch fast besser, als wenn ihre Aufpasser einfach abgehauen wären.

„Ich hör euch nicht. Ich hör euch nicht...", summte jetzt eine Stimme vor der Tür, auch wenn momentan wirklich nichts zu hören war.

„Und du glaubst echt, dass es funktioniert?" Emilia war skeptisch.

„Unsere einzige Chance, so weit ich das sehe", murmelte Romy und kniete sich vor die Klappe in der Tür. Sie setzte das Messer am oberen Rand an und begann dann langsam zu sägen. Es war laut. Viel zu laut.

„Leiser. Mach's leiser", flüstere Emilia panisch.

„Sing!"

„Ich kannt eine Mutter, die hatte vier Kinder..."

Während Emilia sang, sägte Romy weiter. Wenn sie es schafften würde, die Lücke etwa zwanzig Zentimeter breiter zu machen, dann konnten sie es tatsächlich schaffen, zu fliehen.

„Ein Hoch auf uns", schmetterte Emilia jetzt. „Auf dieses Leben!" Vor und zurück. „Auf den Moment." Zurück und vor. „Der immer bleibt!"

„Ich habs gleich, ich habs gleich", murmelte Romy immer wieder und ihre Finger begannen zu schwitzen. Als Emilia bei der dritten Strophe von Der Mond ist aufgegangen war, löste sich das Holzstück schließlich aus der Tür und sie atmete erleichtert auf.

„Du zuerst", entschied Emilia. So kam es, dass Romy sich zum ersten Mal in ihrem Leben gegen Mitternacht im Takt zu Skyfall durch eine Katzenklappe aus dem behelfsmäßigen Zimmergefängnis ihrer besten Freundin schlängelte. Es war eng, aber es ging.

Nach fünf Minuten hatte es auch Emilia geschafft und sie sahen einander fassungslos an. Auf einem Feldbett an der gegenüberliegenden Wand schlief ein Mann, der seine Decke bis an die Nasenspitze hochgezogen und tatsächlich Oropax in den Ohren hatte. Sonst sahen sie niemanden.

Auf Zehenspitzen schlichen sie den leeren Gang entlang und dann die Treppe nach unten. Leise und behutsam öffneten sie die Haustür und traten auf die Straße.

Auf Emilias Gesicht erschien ein Strahlen. „Nach so langer Zeit endlich wieder unter freiem Himmel."

„Psst. Freu dich später. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dazu. Jetzt müssen wir erstmal von hier weg."

Sie huschten die Gassen und Straßen entlang, immer darauf bedacht, so wenig Lärm wie möglich zu machen, aber als sie auf die große Hauptstraße einbogen, hielt Emilia es nicht länger aus.

„Freiheit!", schrie sie, streckte die Arme in den Himmel und drehte sich auf der Stelle.

„Bist du bescheuert? Was machst du da?", zischte Romy.

„Ich erzähle den Sternen, dass ich frei bin. Und dem lieben Mond. Guter Mond, siehst du mich? Ich rieche die Nachtluft, ich fühle die Kälte auf meiner Haut. Meine Füße berühren die Straße. Mond, siehst du das?"

„Emilia, hör auf. Es ist scheißkalt. Hör auf mit dem Blödsinn. Wir müssen jetzt ganz schnell zu mir nach Hause."

„Meine Freundin hat's eilig, guter Mond. Verstehst du das? Dabei ist es doch so schön hier draußen."

„Du bist übergeschnappt", murmelte Romy und griff ihre Freundin am Arm. „Los jetzt."

„Schon gut. Auf Wiedersehen, liebe Sterne und lieber Mond. Bis bald, ich muss jetzt gehen."

Romy konnte nur den Kopf schütteln. Als sie um die nächste Ecke bogen, hörten sie auf einmal Schritte, die auf dem Asphalt klapperten und durch die nächtliche Stille hallten. Klick-Klack. Und sie kamen immer näher. Klick-Klack, Klick-Klack...

MedaillenblutWhere stories live. Discover now