3. Kapitel

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Am Freitagmorgen wachte Romy erst um zehn auf. Kein Wunder, als die Polizisten sie gebracht hatten, war es schon zwei gewesen.

Mit einem Blick auf die Uhr beschloss Romy, heute nicht zur Schule zu gehen. Ihr Zuspätkommen hätte nur weitere nervenaufreibende Fragen aufgeworfen.

Sie legte sich wieder hin und schlief bis zwölf, danach stand sie auf, um duschen zu gehen.

Ihr Vater war nicht da. Sie hatte in der Nacht nicht noch einmal nach ihm geschaut. Im Grunde war es ihr egal, ob er da war. Er sprach sowieso nicht mehr. Mit ihr jedenfalls nicht. Manchmal sahen sie sich noch beim Frühstück, aber ansonsten lebten sie seit der Beerdigung aneinander vorbei. Er verbrachte die Zeit in seiner Straßenlaternenfabrik oder in seinem Bett. Sie ihre auch im Bett, in der Schule oder der Sporthalle.

Während das warme Wasser über ihren Körper lief, wurde ihr klar, dass sie ihm das übel nahm. Natürlich musste er trauern, das war selbstverständlich. Sie ja auch. Aber dass er sie so komplett aus seinem Leben ausschloss, war nicht in Ordnung. Es war einfach nur ungerecht.

Bis vor Kurzem hatte sie noch Emilia gehabt, aber ihre beste Freundin war vor einer Woche spurlos verschwunden. Emilias Eltern kamen fast um vor Sorge. Sie befürchteten, dass auch ihr etwas zugestoßen war, dass auch sie nicht mehr lebte und hatten die ersten Tage quasi auf der Polizeistation gelebt. Romy aber hatte versucht, eine Maske der Gleichgültigkeit, der Gefühlslosigkeit aufzusetzen. Manchmal gelang ihr das und manchmal stürmten dann alle Gefühle wieder auf sie ein. Sie hatte manchmal das Gefühl, dass sie nur noch das zwei bis dreistündige Training jeden Abend am Leben hielt.

Danach legte sie sich wieder ins Bett. Kopfhörer auf den Ohren mit maximaler Lautstärke in der Hoffnung, so die Gedanken ausblenden zu können. So blieb sie den restlichen Tag bis es sechs Uhr war.

Dann aß sie noch etwas und machte sich fertig fürs Training.

Mit dem Fahrrad musste man über die Landstraße und auch an der Fabrik vorbeifahren, um ins Nachbardorf, in dem die Sporthalle lag, zu kommen. Romy blendete die Gedanken an gestern Nacht aus, als sie am Fabrikgelände vorbeifuhr.

Sie war, wie eigentlich immer, die Erste in der Halle. Die Geräte waren aufgebaut und leise Musik lief. Dieser Ort war der einzige, an dem sie sich noch wohlfühlte. Der einzige, an dem sie nicht das Gefühl hatte, zu zerbrechen. An dem sie noch sie selbst war und die Trauer sie nicht zu verschlingen drohte.

Romy begann Runden zu laufen und dann sich zu dehnen.

Einige Minuten später kam Kelly, ihre Trainerin, dazu. Sie lächelte ihr leicht zu. Während Romy sie beobachtete, wurde ihr klar, dass Kelly die Einzige war, der sie noch vertraute, der sie es noch schaffte, Freundlichkeit entgegenzubringen, die sie glücklich machen konnte und mit der sie noch redete. Sie war die Einzige, die ihr noch blieb.

Nach und nach kamen die anderen Mädchen und füllten die Halle mit ihrem Geschnatter. Sie unterhielten sich über die Schule, Jungs, Weihnachten, den Schnee, Fernsehen, das Wochenende. Alles Dinge, die für Romy keine Bedeutung mehr hatten. Aber sie akzeptierte sie, weil sie sie akzeptierten, früher Freunde gewesen waren und jetzt immerhin noch eine Gemeinschaft im Sport bildeten.

Nach dem Dehnen begannen sie zu turnen und Romy spürte einmal mehr, wie ihre Seele aufhörte zu bluten. Während sie um den Stufenbarren wirbelte, konnte sie ihr Gehirn abschalten und nur an die Bewegungen denken, an die nächsten Griffe, die nächsten Drehungen.

Beim Turnen war sie in ihrem Element. Wenn sie Flick-Flacks auf dem Boden und Salti auf dem Trampolin turnte, konnte sie die Welt da draußen komplett ausblenden.

Und manchmal, ganz selten, fand sie in den Bewegungen sogar ein bisschen Glück.


~


Das Wochenende kam viel zu schnell, wie er fand. Früher ein Grund zur Freude, heute brachte es nur noch mehr Anstrengungen mit sich.

Eigentlich musste er samstags und sonntags nicht arbeiten, aber zu Hause, wo ihn jedes Zimmer, jeder Gegenstand an Eliza erinnerte, hielt er es nicht mehr aus.

Michael Lindner saß in seinem Büro auf seinem Schreibtischstuhl. Es war kaum ein anderer Mensch in dem Gebäude.

Er drehte sich einmal mit seinem Drehstuhl. Einmal rechts herum, einmal links herum. Rechts, links. Rechts, links. Nein, das war zu einfach. Zweimal rechts. Einmal links, dreimal rechts, zweimal links. Schon besser.

Er versuchte seine Gedanken auszuschalten, aber bei jeder Drehung fiel sein Blick wieder auf das gerahmte Foto auf seinem Schreibtisch. Eliza, Romy und er. Zusammen auf Ibiza. Glücklich.

Was war nur von dieser lächelnden Familie übrig geblieben? Ein gebrochener Mann und ein gebrochenes unglückliches Mädchen. Wie konnte es sein, dass der Tod eines einzelnen Menschen so viel Leid, so viel Zerstörung auslösen konnte?

Er wusste, dass seine Tochter verzweifelt und traurig war. Und dass er daran auch eine gewisse Mitschuld trug. Es machte ihn verrückt, sie jeden Morgen leblos am Küchentisch sitzen zu sehen. Kein Wort, kein Lächeln von ihr zu hören.

Aber er konnte sich einfach nicht um ihretwillen zusammen reißen. Abgesehen davon durfte er es nicht. Jede Minute, die sie zusammen verbrachten und von der Er erfuhr, war gefährlich.

Auch wenn Eliza jetzt schon über einen Monat tot war, war der Schmerz kein bisschen kleiner geworden. Es tat jedes mal beim Aufwachen wieder genauso weh, wie ganz am Anfang und wenn er Romy sah, erkannte er immer viel zu viel von Eliza ihn ihren Gesichtszügen wieder. Es war, als rammte man ihm eine glühende Faust in den Magen.

Nein, er war nicht schwach. Dass er mit seiner Tochter nicht mehr sprach, hatte sowohl egoistische als auch selbstlose Hintergründe. Irgendwann würde sie das verstehen.

Und sie war stark, ja sie war stark, das wusste er und wenn sie beide so weit waren, dann konnten sie sich auch wieder annähern.

Achtmal rechts, siebenmal links, neunmal rechts, achtmal links.

Nein, momentan war er noch Welten von diesem Zustand entfernt. Aber es tat ihm leid. Es tat ihm so unbeschreiblich leid.

Er nahm das Foto und schleuderte es auf den Boden. Das Glas zerbrach.

Eine einzelne Träne lief über seine Wange.

MedaillenblutWhere stories live. Discover now