14. Kapitel

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In diesem Moment hörten sie wieder die Kirche. Die Uhr schlug Mitternacht.

„Wer kann das sein?", fragte Emilia ängstlich. Die Glocke machte ihre Worte schwer verständlich.

„Bestimmt nur ein ganz normaler Spaziergänger." Romys Stimme klang ungewöhnlich hoch.

„Lass uns einfach abhauen!"

Gerade als sie losrennen wollten, durchschnitt eine einzelne Stimme die Nacht: „Halt! Wartet!"

Die Mädchen drehten sich um und Romy entschlüpfte ein Aufschrei. Am Ende der Straße stand eine Gestalt. Es war eine Frau.

„Das kann doch nicht wahr sein", stieß Romy hervor. Die junge Frau kam näher.

„Wer ist das?"

„Das willst du nicht wissen, Emilia", antwortete Romy.

„Veronika", sagte Veronika und stemmte abschätzig die Hände in die Hüften. „Und mit wem habe ich die Ehre?" Ihre Stimme triefte vor Spott.

„Was willst du?", zischte Romy.

„Ich glaube, du hast da vorhin was vergessen." Sie zog aus ihrer Tasche ein Band hervor, an dem etwas Glänzendes baumelte. Die Medaille. Da verstummten die gleichmäßigen Glockenschläge und es wurde wieder still. Gespenstisch still.

„Gib sie her!" Romy streckte die Hand aus.

„Wer's gefunden hat, der darf's behalten, oder nicht?"

„Wer bist du?", fragte Emilia wieder.

„Ich glaube, das Kind ist schwer von Verstand. Vielleicht ist sie ja taub. Die Ärmste."

„Emilia ist kein Kind. Nimm das sofort zurück! Und gib mir meine Medaille." In Romy kochte es.

„Sie ist nicht deine Medaille. War es noch nie. Wie gesagt, ihr seid noch Kinder. Auch du bist noch ein Kind. Dir steht so eine Medaille gar nicht zu."

„Das hatten wir doch schon." Sie wollte nach der Medaille greifen, doch Veronika zog sie blitzschnell weg.

„Du weißt genauso gut wie ich, dass es meine Medaille ist. Ich war besser als du. Ich bin besser als du. Sie gehört mir."

„Hast du getrunken? Bist du krank? Du redest hier vielleicht eine Scheiße zusammen."

„Meinst du dich? Das Verb zusammenreden gibt es überhaupt nicht."

„Was willst du?", schrie Romy.

„Oh, ich habe alles, was ich will." Sie ließ die Medaille vor ihrem Gesicht hin und her schwenken.

„Wieso bist du dann hier?" Romy stürzte sich auf Veronikas Arm und versuchte, ihr die Trophäe zu entreißen.

„Stopp!", schrie Emilia, die dem Dialog bis dahin schweigend und mit wachsendem Unglauben gefolgt war. „Was ist euer Problem?"

„Ich hab dir doch vorhin von Veronika erzählt. Sie war auch bei Olympia und wurde dort nur Zweite. Sie kann das einfach nicht akzeptieren und versucht jetzt, meine Medaille an sich zu reißen, um sich besser zu fühlen."

„Romy hatte als Minderjährige nicht das Recht dort mitzumachen. Sie hat die Richter umgarnt und sich so den Sieg erschlichen. Sie kann eigentlich nichts. Sie hatte bloß Glück und will das nicht einsehen."

„Das hab ich verstanden." Emilia schnappte Veronika ohne Vorwarnung die Medaille aus der Hand. „Also nochmal die Frage: Was ist euer Problem? Was ist so wichtig daran dieses Ding", sie hielt die Medaille hoch „zu besitzen? Wieso denkt ihr euch nicht einfach jeder für sich, dass ihr gewonnen habt? Ist doch egal, was die Jury sagt. Wichtiger ist doch, was ihr in euren Herzen sagt."

„Du verstehst das nicht", sagten Romy und Veronika wie aus einem Mund. Veronika grinste triumphierend und Romy schnaubte.

„Oh doch! Ich denke, ich verstehe das am Besten. Ihr seid verrückt, alle beide. Es ist vollkommen egal, wem dieses Ding gehört. Das ist wahrscheinlich nicht mal echtes Gold."

„Aber es ist verdammt nochmal ein Symbol", ereiferte sich Veronika.

„Es ist mein Symbol."

„Nein."

„Hört auf, verdammt!"

Romy verschränkte die Arme. „Woher kommst du überhaupt? Was machst du hier? Wie hast du mich gefunden?"

„Das ist doch wirklich nicht schwer. Dein Name ist in aller Welt bekannt."

„Ja, aber warum bist du hier?", fauchte Romy.

„Ich wollte die Medaille."

„Deshalb bist du den ganzen Weg hierher gekommen?", fragte Romy ungläubig.

„Ich wohne nicht sehr weit weg. Im Süd-Westen von Baden. Das ist nur eine dreiviertel Stunde mit dem Auto."

„Aber das ist doch kein Grund..."

„Okay, ganz langsam", sagte Emilia. „Erzähl uns die ganze Geschichte."

Veronika seufzte. „Ich wollte das nicht einsehen, dass Romy die Medaille bekommen hat und nicht ich. Ich habe ihre Adresse rausgefunden und bin dann hierher gefahren. Heute habe ich sie dann zufällig in der Hauptstraße gesehen. Sie hatte es sehr eilig. Ich bin ihr dann bis zu dieser Kirche gefolgt und als sie weggerannt ist, habe ich einfach die Medaille genommen. Ich bin noch hier, weil... ich wollte noch nach jemandem schauen. Dann hab ich euch getroffen und den Rest kennt ihr."

„Nach wem bitte hast du noch so lange gesucht?", fragte Romy schnippisch.

„Ein Bekannter", antwortete sie ausweichend.

„Und was machst du jetzt?", fragte Emilia.

Veronika schlang die Arme um sich, als wolle sie sich selbst beschützen. Das Aggressive war aus ihrer Stimme gewichen. Romy lag schon die nächste spitze Bemerkung auf der Zunge, da sagte ihre Widersacherin überraschenderweise leise und mit gebrochener Stimme: „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich übernachte ich im Auto und fahre dann morgen früh nach Hause." Bei den Worten Nach Hause schwang ein seltsamer, undefinierbarer Unterton mit.

Es gab tausend Dinge, die Romy im Kopf herumspukten und die sie jetzt hätte erwidern können, aber ihr fiel nur ungläubig die Kinnlade herunter.

Diese fast geflüsterten und ehrlich traurig klingenden Worte hatte sie als letztes von Veronika erwartet. Sie ließen sich mit dem Bild, dass sie bis jetzt von ihr gehabt hatte, nicht in Einklang bringen. Und Romy wurde klar, dass es wirklich keinen Menschen gab, der so war, wie er nach außenhin schien. Auch Veronika war anscheinend hinter ihrer Maske noch ein junges, einsames und zerbrechliches Mädchen.

„Nein, das brauchst du nicht", sagte Emilia plötzlich. Wenn es möglich gewesen wäre, dann wäre Romys Kinnlade in diesem Moment noch weiter runtergeklappt. „Wenn du möchtest kannst du heute bei uns übernachten."

„Bei uns?", brachte Romy mühsam hervor.

„Ja, du hast doch zwei Isomatten. Das passt schon." Veronika wusste nicht, was sie antworten sollte und Romy konnte sie einfach nur wie der letzte Vollidiot anstarren. Das Mädchen ihr gegenüber hatte sich in den letzten Minuten von einer giftsprühenden, eifersüchtigen Diebin zu einem hilflosen, unsicheren und ihr völlig neuen Wesen verwandelt.

MedaillenblutWhere stories live. Discover now