8. Kapitel

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Als erstes war Irina an der Reihe. Sie begann mit Sprung und Barren und als sie zum Balken ging, fing Veronika beim Sprung an. Sowohl Irina als auch Veronika waren unglaublich gut. Am Stufenbarren bekam Veronika 16, 100 Punkte. So viel, wie dieses Mal bei Olympia niemals jemand zuvor.

Romy war extrem nervös. Ihre Hände begannen zu schwitzen und als Irina beim Boden fertig war und Veronika zum Balken ging, war Romy auch schon dran.

Sie stellte sich an den Anfang des Sprunganläufers und wischte sich die verschwitzten Hände an der Hose ab. Ihre Knie zitterten.

Und dann blickte sie auf. Sie sah die Zuschauerränge nicht mehr. Sie sah die Jury nicht. Sie sah Kelly nicht und Irina nicht und Veronika nicht und auch nicht die Fledermaus. Sie sah nur den Sprungtisch am Ende des Anläufers.

Dann sah sie auf einmal von außen auf das Geschehen. Nicht sie stand dort und konzentrierte sich. Nicht auf ihr lagen alle Blicke. Dort am Start stand Eliza. Nicht Romy, sondern Eliza.

Romy lächelte und rannte an. Vor dem Sprungbrett eine perfekte Radwende, rückwärts auf dem Brett gelandet, kräftig abgesprungen, schöner Flick-Flack auf den Tisch, übergangslos doppelter Rückwärtssalto auf die Matte. Sicher gestanden. Applaus.

Romy konnte nicht aufhören, zu lächeln. Ihre Mutter war zu ihr zurückgekehrt! Sie spürte, dass sie in ihr noch lebte, dass sie ihr hierbei half, dass sie die Bewegungen gemeinsam ausführten. Genau deswegen war sie hier. Genau deswegen turnte sie noch. Es war das Verbindungsstück zwischen Eliza und ihr. Die Wettkampftafel zeigte 15, 250 Punkte an.

Veronika war jetzt beim Boden. Sie warf Romy einen wütenden Blick zu, aber Romy ging unbeeindruckt zum Stufenbarren.

Romys Herz schlug für zwei Menschen. Bei jeder Drehung um die Holme spürte sie die Anwesenheit ihrer Mutter wie nicht mal als sie noch gelebt hatte. Ihre Mutter turnte für sie und beschützte ihre Bewegungen. Sie turnte für ihre Mutter, um ihr zu zeigen, dass sie noch da war. Romy wusste, dass sie das hier für Eliza gewinnen konnte.

Sie versuchte, das unglaubliche Glück, dass sie empfand ganz in sich aufzunehmen und zu speichern.

Auch beim Balken war sie so gut, wie noch nie, obwohl er das Gerät war, das sie am wenigsten leiden konnte. Schöner Aufgang. Salto. Seitliches Rad ohne Hände. Dann dreifache Drehung, Spagatsprung, Rückwärtssalto, zweimal hintereinander ein Überschlag rückwärts, Radwende, Anlauf, doppelter Salto auf die Matte. Stehen. 15, 600 Punkte.

Und dann war der Boden dran. Das war ihr Gerät. Ihre Bewegungen zeigten große Perfektion, jeder Sprung, jedes Element saß. Hier spürte sie die Nähe zu Eliza am stärksten.

Während der Kür begannen Tränen über ihre Wangen zu laufen. Sie hatte oft wegen ihrer Mutter geweint, aber dieses Mal fühlte es sich zum ersten Mal richtig an. Ihre Tränen besaßen die Ehrlichkeit eines kleinen Kindes.

Und dann, gegen Ende der Kür, geschah etwas Unglaubliches. Sie konnte Abschied nehmen. Sie spürte, wie sehr sie ihre Mutter brauchte und liebte, aber sie sah jetzt zum ersten Mal mit voller Klarheit, dass sie tot war und dass sie nicht wieder kommen würde. Sie wusste, dass sie es nicht ändern konnte und dass es okay war.

Denn ganz hatte sie Eliza nie verloren. Sie lebte im Turnen, in ihrer Leidenschaft auf ewig weiter und deswegen waren es, als die letzten Töne der Musik verklungen waren auch keine Tränen mehr, die aus Trauer vergossen wurden, sondern welche aus Glück darüber, dass sie ihre Zeit zusammen gehabt hatten und dass sie schön gewesen war, die gemeinsame Zeit. Sie bekam nichts um sich herum mehr mit. Sie spürte nur, dass sie es geschafft hatte, loszulassen.

„Tschüss, Mama", flüsterte sie und wischte ihre Tränen nicht weg, denn sie gehörten zum Abschied dazu. Sie fühlte sich wieder frei.

Dann blickte sie auf. Alle Eindrücke stürmten wieder auf sie ein. Sie sah als erstes Veronikas wütenden Gesichtsausdruck. Dann die ernsten Mienen der Jurymitglieder, dann die Zuschauer, dann Kellys staunenden Blick und dann sah sie auf der Anzeigetafel direkt neben ihrem Namen die kleine goldene Eins.


~


Die Kälte hatte sich schon längst durch seine Klamotten gefressen und war auf dem besten Weg, das auch durch seine Knochen zu tun.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte durch das kleine Fenster ein bisschen mehr zu erkennen. Es war so schmutzig, dass es aussah, als hätte man es seit Inbetriebnahme der kleinen Gaststätte nicht mehr geputzt.

Aus dem Pub drang Gelächter zu ihm nach draußen. Der betörende Geruch von Bier und Essen stieg in seine Nase. Es sah warm und gemütlich da drinnen aus. Seine Zähne klapperten und sein Magen gab ein furchteinflößendes Knurren von sich.

All das interessierte ihn aber nicht. Er wollte nur eine bessere Sicht auf den Fernseher bekommen, der auf der anderen Seite des Gastraums über der Theke angebracht war.

Es lief gerade Olympia live und nur deswegen war er hier. Im Moment hätte man die Siegerehrung der Turnerinnen sehen können, wenn ihm nicht der große bierbäuchige Wirt den Blick versperrt hätte.

Da! Endlich. Er kam hinter der Theke hervor um seine Bestellungen aufzunehmen. Jetzt konnte man den kleinen Bildschirm viel besser sehen. Auf dem Siegerpodest standen drei junge Frauen, die gerade ihre Medaillen umgehängt bekommen hatten und nun fröhlich in die Kamera lächelten. Vermutlich lief gerade eine Nationalhymne dazu.

Die eine Frau war ganz klar Sie! Aus irgendeinem Grund war er stolz auf sie, obwohl er sie doch kaum kannte.

Aber was war das? Diese andere Frau kannte er auch! Wer war das? Verdammt, aber er war sich ganz sicher: Ihr Gesicht kannte er von irgendwoher.

Blende auf die Zuschauer, die applaudierten, dann sah man, wie die drei Frauen von ihrem Podest stiegen. In diesem Moment lief wieder der dickliche Mann ins Bild und verdeckte es mit seinem enormen Wanst.

Da wusste er es plötzlich wieder. Sie war es! Seine Spielgefährtin, seine Aufpasserin, seine Leidensgenossin, sein Vorbild.

Er hatte sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen.

MedaillenblutWhere stories live. Discover now