4. Kapitel

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Romy schaltete den Fernseher an. Das tat sie immer sofort, sobald sie die Wohnung betrat. Das Radio, einen CD-Player oder eben den Fernseher. Immer etwas, das Geräusche produzierte, damit sie sich nicht ganz so einsam fühlte.

Das Wochenende hatte sich lang und schleppend gezogen und heute war sie wieder zur Schule gegangen. Sie kam jetzt gerade zurück und es war erst vier Uhr. Bis sechs schienen es noch zwei unendlich lange Stunden zu sein.

Sie machte sich eine Schüssel Cornflakes, schnappte sich den Lateinordner und ließ sich auf das Sofa vorm Fernseher sinken.

Sie starrte den Bildschirm an. Zwei Mädchen standen in einem Stall und frisierten überglücklich ein schwarzes Pferd.

Partizip Perfekt Passiv von vivere? Von ridere? Von petere? Entscheide, was geht und was nicht. Ratlos betrachtete sie das Arbeitsblatt. Ihr fiel nicht einmal mehr ein, was ein Partizip Perfekt Passiv überhaupt war.

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wie in einer Power-Point-Präsentation liefen die Bilder der Geschehnisse der letzten Zeit vor ihrem inneren Auge ab. Oben in der Ecke stand mit roter Schrift das Datum des Ereignisses. Diese Daten würde Romy nie vergessen können. Sie hatten sich auf ihre Netzhaut gebrannt.

Vor etwa einem Monat: Die Leiche ihrer Mutter, die sie hatte sehen müssen. Die Kleidung blutgetränkt und die Polizei mit ihren so gar nicht zur Situation passenden rot-weiß-gestreiften Absperrbändern.

Die nächste Folie zeigte sie und Emilia wie sie zusammen auf ihrem Bett lagen.

Dann der Artikel in der Zeitung: „16-jährige Emilia Kade vermutlich entführt!"

Romy allein auf ihrem Bett. Emilia ist fort. Das war vor einer Woche.

Danach ein Bild ihres Vaters. Traurig und übermüdet.

Als nächstes ein Bild des Drogenbosses mit seinen dunklen Augen...

Dann die Fabrik und die Polizei. Das war jetzt erst drei Tage her.

Auf der letzten Folie stand ein Wort. Nur ein einziges Wort. Es trieb ihr wieder Tränen in die Augen. ALLEIN. Das Wort war wie ein Schwert, das in ihr Herz stach.

Auf einmal konnte sie die glücklich lachenden Mädchen im Fernsehen nicht mehr ertragen. So glücklich zu sein war nicht normal. Sie schaltete um. Eine Kochshow. Ja, kochen war gut. So normal.

Romy versuchte sich wieder auf Latein zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht.

Der Satz, den sie in der Schule in letzter Zeit vermutlich am häufigsten gesagt hatte, war „Ich weiß es nicht" gewesen. Dann sahen die Lehrer sie immer mitleidig an. Natürlich. So ziemlich jeder wusste von dem Mord. Es hatte mit riesigen Schlagzeilen in der Zeitung gestanden. Das Nicken und der Ich-weiß-genau,-wie-du-dich-fühlst-Blick, den sie ihr dann zuwarfen, war das Schlimmste. Niemand wusste, wie sie sich fühlte.

Ihr war klar, dass sie überhaupt nur noch in die Schule ging, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Nur die Aussicht auf das abendliche Training war für sie ein kleiner Lichtblick, der sie davon abhielt völlig durchzudrehen.

Jetzt kam ihr auch das Kochen unwirklich vor. Der Koch mit seinem riesigen Schnurrbart wippte fröhlich im Takt zu irgendeiner schnulzigen Musik mit seinem fetten Hintern.

Wieder schaltete Romy um. Eine Nachrichtensendung. Das war perfekt. Das war die Realität. Auch wenn ihr ihr Leben nicht mehr wie die Realität vorkam. Eher wie ein böser, nicht enden wollender Traum. Ihr Leben war nie perfekt gewesen. Wessen Leben war das denn schon bitte? Aber sie war immer zufrieden gewesen. Sie verstand nicht, wie sich das alles innerhalb so kurzer Zeit komplett auf den Kopf hatte stellen können.

MedaillenblutWhere stories live. Discover now