15. Kapitel

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Als Veronika aufwachte, warf sie als erstes einen Blick auf die Leuchtziffern von Romys Wecker. Es war sechs Uhr morgens. Dann hatte sie also doch bestimmt vier Stunden geschlafen. Sie wand sich aus dem Schlafsack, den sie ihr gegeben hatten, als sie vor wenigen Stunden hierher gekommen waren, und richtete sich auf.

Emilia lag neben ihr. Die brauen Haare waren über den Kissenbezug verteilt und umrahmten ihre sanften Gesichtszüge. Sie hatte es gestern nicht glauben können, dass dieses fremde Mädchen ihr einfach so angeboten hatte, mitzukommen. Das musste irgendeinen Hintergedanken haben. Einfach so tat man so etwas Nettes nicht.

Romy lag in ihrem Bett. Auch sie sah im Schlaf sehr friedlich aus. Auf dem kleinen Nachttisch neben ihrem Kopfende lag die Medaille. Einfach so, unumsorgt, unbewacht.

Veronika betrachtete sie lange und als sie bei ihrem Anblick kein Verlangen mehr bemerkte, wurde ihr einiges klar.

Ihre Eifersucht und ihr Neid auf Romy bezogen sich nicht nur auf ihr Können. Zum großen Teil hatte sie sie um ihr Leben beneidet. Sie hatte berühmte, sie liebende Eltern, sie ging zur Schule, hatte dort Freunde und war unter Ihresgleichen. All das hatte sie nie gehabt. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, besser als Romy zu sein, um sich vielleicht einmal so wie sie fühlen zu können. Als sie das nicht geschafft hatte, hatte sie das nicht akzeptieren können. Vielleicht hatte sie sich dieses Ziel, besser als Romy zu sein, auch nur gesteckt, um überhaupt mal ein eigenes Ziel zu haben. Olympia, die ganzen Wettkämpfe, all das waren immer nur die Vorstellungen und Ziele ihrer Eltern gewesen, nie ihre eigenen.

Jetzt kannte sie Romy auf einmal ein wenig besser und sie sah, dass ihr Leben mindestens genauso beschissen war, wie ihr eigenes, aber immerhin hatte Romy eine beste Freundin. So etwas hatte sie auch noch nie gehabt. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie immer noch mit ihr tauschen wollen. Veronika verstand, dass es wahrscheinlich nicht fair war, den Frust über ihr eigenes Leben an Romy auszulassen. Das hatte sie nicht verdient. Momentan war ihr vollkommen gleichgültig, was ihre Eltern gesagt hatten, das sie tun sollte.

Leise und vorsichtig stand Veronika auf und packte ihre Sachen zusammen. Romy eins auszuwischen war gar nicht ihr eigentliches Ziel gewesen, als sie hierher gekommen war. Sie wollte Romy und Emilia nicht weiter zur Last fallen. Sie hätte das Angebot nie annehmen sollen. Sie gehörte nicht hierher.

Als sie an der Tür war, hörte sie eine leise Stimme. „Wohin gehst du?" Romy hatte sich in ihrem Bett aufgesetzt und starrte sie verwirrt an.

„Ich gehe nach Hause. Hier habe ich nichts mehr verloren. Tut mir leid für alles, du wirst mich nie wieder sehen müssen", flüsterte sie.

Romy fragte nicht nach ihren Absichten. Sie fragte nicht nach Gründen. Sie fragte nicht nach dem Warum. „Dann nimm die hier mit", sagte sie bloß und deutete auf die Medaille.

Veronika schüttelte ungläubig den Kopf. „Nein, das ist deine."

„Ach was, ich brauch sie nicht. Bei mir verstaubt sie sowieso bloß nur in irgendeiner Schublade. Wie Emilia gesagt hat, wir können einfach beide für uns denken, dass wir gewonnen haben und dir bedeutet die Medaille glaube ich mehr als mir."

„Nein Romy. Ich will sie nicht. Das wäre falsch."

„Sicher?"

„Ganz sicher", Veronika öffnete die Tür. „Sag Emilia Danke von mir."

„Okay, mach ich."

„Und Romy?"

„Ja?"

„Danke. Wirklich."

„Schon okay."

Dann schlüpfte Veronika in den Flur hinaus und schloss die Tür. Romy ist viel zu gut für mich, dachte sie. Sie ging die Treppe hinunter und verließ dann im Stockdunkeln das Haus.

Auf dem kleinen Rasenstück vor dem Haus stieß sie auf einmal mit etwas zusammen. Mit Jemandem. Die Person war ganz in schwarz gekleidet und starrte sie an. Veronika starrte zurück. In der Dunkelheit konnte sie das Gesicht des Jungen, das nur ganz schwach von der nächsten Straßenlaterne beleuchtet wurde, kaum erkennen, aber je länger sie ihn anstarrte, desto sicherer wurde sie, dass sie ihn irgendwoher kannte.

Plötzlich brach er den Blickkontakt ab und steckte blitzschnell einen Briefumschlag in den Briefkasten vor Romys Haus. Dann drehte er sich wortlos um und rannte davon.

Veronika starrte ihm lange hinterher. Sie konnte es beim besten Willen nicht greifen, aber sein Gesicht kam ihr unnatürlicher weise wirklich bekannt vor. Sie schüttelte den Kopf, um die verwirrenden Gedanken loszuwerden und machte sich dann auf den Weg, die dunkle Straße entlang zu ihrem Auto.

MedaillenblutWhere stories live. Discover now