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Von einem weiteren Albtraum geschüttelt, erwachte Melissa keuchend und schweißgebadet in ihrem Bett, die Erinnerungen an die Entführung ließen sie einfach nicht los. Diesmal war es der Moment gewesen, indem die Männer sie in den Wagen gezogen und sie gefesselt hatten. Noch immer konnte sie fühlen, wie die Schnüre ihr scharf in die Haut geschnitten hatten, als sie panisch versuchte, sich loszureißen. Erst nach ihrem Erwachen war es ihr möglich, ihre Hände wieder ungehindert zu bewegen. Mit Tränen in den Augen saß sie nun aufrecht im Bett und rieb sich die Handgelenke. Suchend sah sie sich um.

Nicolas befand sich nicht neben ihr – wie sie sich gerade jetzt nach seiner tröstlichen Umarmung sehnte. Offenbar hatte er sich hinausgeschlichen, um sich Stunden später wieder zu ihr zu gesellen. Es war nicht das erste Mal.

Seufzend erhob Melissa sich, an Schlaf war für sie nicht mehr zu denken und der Blick aus dem Fenster verriet ihr ohnehin, dass es bald Frühstückszeit wäre. Sie überlegte eine Runde durch den Park zu drehen, ein Spaziergang würde sie auf andere Gedanken bringen und möglicherweise lief sie Nicolas über den Weg. Doch der Schnee hatte eine trostlos matschige Landschaft unter grauem Himmel zurückgelassen, nachdem er innerhalb eines Tages geschmolzen war. Zögernd betrachtete sie den Park im fahlen Licht der Dämmerung. Nun, sie würde wenigstens eine kurze Runde gehen und Nicolas hoffentlich bald ausfindig machen. Dann bliebe ihnen vor dem Frühstück noch Zeit für eine gemeinsame heiße Dusche.

Als sie den Aufenthaltsraum auf dem Weg zur Treppe passieren wollte, vernahm sie gedämpfte Stimmen. Abrupt blieb sie stehen. Waren das Tara und Adam? Was hatte sie so früh am Tag hierhergetrieben? Melissa machte einen Schritt auf die geöffnete Tür zu – vielleicht befand sich ja Nicolas auch bei ihnen – als sie Adams aufgebracht sprechen hörte.

»Das kann nicht sein verfluchter Ernst sein. Glaubt er, dass das witzig ist? Endlich ist alles in Ordnung, und dann kommt er mit so einer Scheiße!«

»Pssst, nicht so laut, du wirst noch alle wecken. Beruhige dich.« Tara.

Was ging da vor sich? Und was hatte Nicolas – denn um niemand anderes konnte es sich in dem Gespräch handeln – getan, das Adam so aus dem Konzept brachte? Was immer es war, sie wollte es erfahren – und zwar nicht als heimlicher Lauscher an der Tür.

»Wie zur Hölle soll ich mich beruhigen, wenn ...« der junge Vampir verstummte, als Melissa die Tür aufdrückte und in den Wohnraum blickte. Unsicher lächelte sie die beiden an – Tara, die leichenblass auf einem Stuhl saß und Adam, der durch den Raum getigert war und bei ihrem Anblick abrupt stehenblieb. Niemand lächelte zurück.

»Melissa ...« Es klang so viel mehr mit in Taras überraschter Ansprache als ihr bloßer Name. Eine Erschöpfung, die sie von der Vampirin nicht kannte und ... ein tiefer Schmerz. Tara schloss für einen Moment die Augen, als müsse sie sich sammeln, um weiter sprechen zu können. Adam dagegen sah Melissa entgeistert an.

»Melissa«, fuhr die Vampirin fort, »wir wollten dich ohnehin gleich wecken. Setz dich doch bitte zu uns.« Sie deutete auf einen Stuhl neben sich. Die Traurigkeit in ihrem Blick ließ Melissa zurückzucken. Ein Knoten bildete sich in ihrem Magen und sie war sich nicht sicher, ob sie hören wollte, was Tara zu sagen hatte.

Als sie keine Anstalten machte, sich neben der Vampirin niederzulassen, fing diese dennoch an zu sprechen. Mit merkwürdig tonloser Stimme fragte Tara: »Hat Nicolas mit dir gesprochen über ...« Sie brachte die Frage nicht zu Ende.

Melissa hielt es nicht aus. »Über was?« Was konnte so schrecklich sein, dass Tara es nicht auszusprechen wagte?

»... über seine Pläne«, vollendete die Vampirin endlich ihren Satz.

Verwirrt starrte Melissa Tara an. Welche Pläne meinte diese? Bislang war ihr einziges Anliegen gewesen, wieder zur Ruhe zu kommen und ein normales Leben zu führen, um die zurückliegenden Ereignisse einigermaßen zu überwinden. Ihrer Meinung nach war es deutlich zu früh gewesen, um große Pläne zu schmieden.

»Also nicht«, schloss Tara aus ihrer Reaktion. »Wie ich es mir dachte.«

»Er hat über unser aller Köpfe entschieden. Wieder einmal«, sagte Adam verbittert, doch unter diesem Tonfall schwang noch etwas anderes mit – eine quälende Verzweiflung.

Noch immer wusste Melissa nicht, wovon die beiden sprachen, und dennoch kroch eine Ahnung ganz langsam tief unter ihre Haut. Ihr wurde eiskalt.

»Bitte Adam«, sagte Tara, »mach es ihr nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.«

»Tut mir leid, du hast recht.« Entschuldigend blickte er erst zu Tara und dann zu Melissa.

Mitleid. Aus seinen warmen braunen Augen floss das Mitleid geradezu heraus. Mitleid mit ihr.

Melissas Knie wurden weich. Als Adam sie schwanken sah, war er innerhalb eines Wimpernschlages bei ihr und ergriff ihren Oberarm. Bestimmend dirigierte er sie zu dem Stuhl neben Tara und platzierte sie dort. Dann setzte er sich selbst neben sie und holte tief Luft, während er sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr.

»Tara hat heute Morgen eine Nachricht bekommen. Von Nicolas. Ich fürchte, dir wird nicht gefallen, was er schreibt. – Es gefällt uns allen nicht.«

Eine Nachricht, okay. Was konnte daran schon schlimm sein? Sie versuchte sich zu beruhigen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Melissas Herz hämmerte wild. Es war ihr egal, was die beiden Vampire darüber dachten. Sie musste unbedingt wissen, was in dieser Nachricht stand – und gleichzeitig wollte sie es lieber nie erfahren. Sie hatte Angst.

»Was ... was schreibt ...« Ihr Mund war plötzlich staubtrocken, doch es bestand keine Notwendigkeit, die Frage zu Ende zu bringen. Stumm hielt Tara ihr ein Handy vor das Gesicht.

Und dann las Melissa.

Und las noch einmal.

Was immer das für eine Mitteilung war, sie konnte unmöglich von Nicolas stammen. Er würde so etwas nicht schreiben. Er würde das doch nicht tun – oder doch?

Sie griff nach dem Gerät vor ihrer Nase. Ihre Hände zitterten. Ganz dicht hielt sie die Nachricht nun vor ihrem Gesicht, als würde sich der Text dadurch ändern. Einige Male blinzelte sie, um die Feuchtigkeit in ihren Augen zu vertreiben, die die Buchstaben verschwimmen ließ.

Sie kannte die Wörter, dennoch wollten die Sätze keinen Sinn ergebe.

Was meinte er damit, er würde sie alle in Gefahr bringen? Und warum sollte man einen von ihnen benutzen können, um Nicolas zu erpressen. Ja, okay, das war es, was die Entführer gemacht hatten – aber diese waren tot und etwas ähnliches würde nie wieder geschehen. Und all das hatte überhaupt erst durch ihre Dummheit passieren können, weil sie auf eigene Faust weggefahren war. Das hatte doch nichts mit Nicolas' Anwesenheit bei ihnen zu tun. Die Entführung war vorbei. Es gab keine Gefahr mehr. Warum sollte er von der Bildfläche verschwinden wollen? Und wie sollte sie ihn dann noch sehen können? Er schrieb, er würde dafür sorgen, unauffindbar zu sein. Aber er konnte doch nicht ... Melissas Brustkorb wurde eng.

Er wollte sie überhaupt nicht mehr sehen.

In ihrem Nacken prickelte es kalt. Er wollte ihr Leben verlassen. Ihr aller Leben. Keine Verbindung mehr zu Adam, zu Amia, zu Tara – zu ihr.

Damit sie endlich sicher sein konnten.

Er wollte fortgehen.

Nein – er war längst fort.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt