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»Was war das denn?« Fassungslos wanderte Melissas Blick zwischen Tara und Adam hin und her.
»Das«, sagte Tara »war mein wunderbarer Bruder, der gerade unsere Geduld auf eine harte Probe stellt. Ich habe dir gesagt, er kann ein echter Mistkerl sein, aber ich hatte gehofft, er würde sich etwas zusammenreißen.«

»Glaubt er, ich hätte ihm etwas angetan?«

»Du hast ihm etwas angetan.« Tara zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Du bist ihm in einer Situation begegnet, in der er absolut hilflos war. Das war dein erstes Vergehen. Außerdem hast du auch noch so gehandelt, dass er dir zu Dank verpflichtet ist. Zweiter Fehler. Ich wette, Nicolas verabscheut, dass er das Geschehene nicht rückgängig machen kann. Und mit deinem Auftauchen kann er jetzt nicht einmal so tun, als wenn nichts passiert wäre. Er hasst es, jemanden etwas schuldig zu sein oder Schwäche zu zeigen. Nicht seine beste Eigenschaft. - Aber das soll nicht deine Sorge sein.« Sie schenke Melissas ein beruhigendes Lächeln. »Wenn ich das richtig sehe, so wolltet ihr gerade mit dem Kochen beginnen.«

Mit geschmeidigen Bewegungen durchschritt Tara den Wohnraum bis zur Küche und fing an, in den Schränken nach Gegenständen zu suchen und mit diesen herumzuklappern.

Melissa fröstelte. Das Gefühl des Willkommenseins wollte sich nicht wieder einstellen. Nicolas kalter Blick, der sie durchbohrte und seine drohende Gestalt ließen sich nicht aus ihren Gedanken verbannen. Sie sollte nicht hier sein, es war falsch. Sie gehörte nicht hier her. Es war unnatürlich.

Offenbar war ihr Gesichtsausdruck ein offenes Buch.

»Komm schon Melissa«, sagte Tara »bitte lass dir von Nicolas nicht die Laune verderben. Der kriegt sich schon wieder ein - hier, du kannst beim Gemüseschneiden helfen, um dich abzulenken. Da kannst du schön drauf rumhacken.« Mit einem Zwinkern reichte sie ihr ein Schneidebrett mit Messer. Melissa nahm es schweigend entgegen und setzte sich an den Tisch, wo eine große Portion Paprika und Möhren auf ihren Einsatz wartete. Zögerlich griff sie nach einem der Gemüsestücke und ließ die Klinge durch es hindurchgleiten. Ihr Elan beim Kochen zu helfen war verpufft und sie kam nur langsam voran. Aber keiner beschwerte sich.

Tara und Adam unterhielten sich betont unverfangen, während Adam etwas in der Pfanne anbriet, und Melissa merkte, wie die beiden sich anstrengten ein lockeres Gespräch aufrecht zu halten. Aber sie selbst schaffte es nicht, der Unterhaltung zu folgen.

Nicolas Auftritt hatte deutlich gemacht, dass sie so bald wie möglich diesen Ort verlassen musste.

Als Marlon sie ansprach, ob er ihr ein weiteres Foto zeigen dürfe, zuckte sie regelrecht zusammen. Seit geraumer Zeit rollte sie eine Möhre einfach nur auf der Tischplatte hin und her, ohne das es ihr bewusst gewesen wäre. Sie legte das Messer nieder und ließ sich weiterer Tierbilder vorführen, während sie geistesabwesend auf den Monitor starrte.

Sie sollte Adam bitten, sie nach Hause zu bringen.

Erst jetzt ging ihr auf, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich überhaupt befand. Möglicherweise war ihr zu Hause hunderte Kilometer entfernt. Oder noch mehr. Sie konnte es nicht sagen. Sie wusste nicht einmal, wie die Landschaft um dieses Haus herum aussah. Außer dem kleinen Ausschnitt auf den Wald durch die Fensterfront hatte sie noch nichts von ihrem Aufenthaltsort sehen können, da sie das Haus bislang nicht einmal verlassen hatte.

Aber auf keinen Fall würde sie erwarten, dass man sie so weit durch die Gegend fahren würde. Der Zug wäre eine Option. Außerdem stellte sie sich vor, Adam würde sie bis in ihre Wohnung begleiten wollen und ihrem Vater begegnen. Ihre Lüge, sie würde alleine wohnen, flöge auf. Aber noch schlimmer wäre, wenn er sähe, in welchem Zustand sich ihr Vater befände. Das könnte sie nicht ertragen.

Marlon fragte sie nach ihrer Meinung zu einem weiteren Foto. Melissa antwortete einsilbig.
Schließlich setzte Tara sich zu ihr, um beim Gemüseschneiden zu helfen. Erschrocken stellte Melissa fest, dass sie diese Aufgabe völlig vergessen hatte, aber keiner hatte darüber ein Wort verloren. Adam stand weiter am Herd und brutzelte etwas, das einen intensiven Essensgeruch verbreitete. Melissas Appetit hatte sich jedoch völlig verabschiedet. Ihr Magen fühlte sich wie zugeschnürt an. Abwesend nahm sie das Messer wieder auf und zerkleinerte das Gemüse.


Ohne Vorwarung fuhr ein Rucken durch Melissas Körper und verbog diesen, als risse etwas an ihr, in ihr. Erst einmal, dann ein zweites Mal. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre fast vom Stuhl gekippt, keuchte auf, versuchte, die Orientierung wiederzuerlangen. Tara hatte ihren Arm ergriffen und stütze sie. Übelkeit breitete sich in Melissa aus, aber das Rucken hatte aufgehört. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Waren das Krämpfe?

»Alles in Ordnung?« Taras sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ja, ja. Alles prima«, log Melissa. Ihr Atem ging flach und hastig. »Ich ... ich glaube, ich habe nur zu wenig getrunken.« Abrupt stand sie auf und stolperte zur Küchenzeile.

Adam holte ein Glas aus einem der Schränke und stellte es vor sie auf die Arbeitsfläche. »Bitte, warte, ich gieße dir ein. Möchtest du dich nicht lieber etwas hinlegen?« Er füllte das Gefäß mit Wasser, während er sie musterte.

Melissa ergriff das Glas mit zittrigen Fingern und umklammerte es so fest, als müsste sie sich an etwas halten, um nicht umzukippen. Ihr rauschte das Blut in den Ohren. »Geht schon.«

Sie führte das Trinkgefäß an den Mund, als ein erneutes Zerren ihren Körper ergriff, heftiger als zuvor, nochmal und nochmal und immer wieder. Ihre Sicht verdunkelte sich und ihre Beine knickten ein. Mit ganzer Macht krallte sie sich an dem Gefäß fest, aber dieses vermochte sie nicht zu halten. Sie spürte, wie sie in Richtung Boden stürzte, das Glas gegen den Rand der Arbeitsplatte schlug und zerbrach, doch Melissa ließ nicht los. Eine Hand fasste um ihren Oberarm, fest und warm, eine zweite legte sich um ihre Taille. Das Rucken hörte nicht auf, an ihr zu ziehen. Blind und taub fiel sie gegen einen Körper, der ihren Sturz bremste, ihre Hand mit dem zersplitterten Glas folgte ihrer Bewegung, glitt ebenfalls an diesem anderen Körper entlang. Sie spürte eine warme Flüssigkeit über ihre Hand laufen. Etwas stützte sie - jemand? Sie konnte sich nicht erinnern, wo sie war oder wer. Das Rucken und Ziehen erstarb schließlich und Melissa spürte, wie ihr Körper freigegeben wurde und ihre angespannten Muskeln erschlafften. Hände hoben sie hoch, trugen sie und legten sie auf etwas Weiches.

Nur langsam sammelten sich ihre Gedanken wieder und ihr Blick klärte sich. Dort war der Wohnraum mit der Fensterfront und der offenen Küche. Sie lag auf dem Sofa, in Adams und Amias Haus.

»Sie kommt wieder zu sich.« Adam hockte neben ihr und musterte sie. Er musste es gewesen sein, der sie aufgefangen hatte. Dahinter Tara und Marlon mit sorgenvollen Gesichtern. Noch immer klammerte Melissa sich an das zerbrochene Wasserglas. Ihre Hand war blutverschmiert, aber sie hatte keine Schmerzen. Sie musste sich geschnitten haben, aber sie spürte nichts.

Verwirrt sah sie Adam an und erschrak. Seine Wange war bis zum Kinn aufgeschlitzt und das Blut lief ihm den Hals hinunter. Hatte sie ihn mit dem zersplitterten Glasrändern erwischt? Klirrend rutsche ihr das zerbrochene Gefäß aus der Hand. Es war Adams Blut an ihren Händen!


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♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWhere stories live. Discover now