Intervall 02-09

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Der Kranwagen

„Wo bist du gewesen?", wollte er von ihr wissen, doch anstatt seine Frage zu stellen, erzählte er, lang und breit, was ihm, während ihrer Abwesenheit, zugestoßen war. Interessiert und aufmerksam hörte sie ihm dabei zu, doch anstelle des, von ihm erwarteten, Entsetzens in ihrem Blick, war da lediglich wieder jenes Amüsement, das ihn stets so an ihr irritierte.

„Und nun willst du die Stadt verlassen?", hakte sie nach, die Augen dabei wie mandelbraune Sterne funkelnd. Er nickte energisch. Seine Hände zitterten. Es fröstelte ihn. Seine nasse Kleidung klebte kalt und schwer an seiner Haut. Über ihren Köpfen rauschten die tänzelnden Blätter der majestätischen Krone der großen Eiche, die ihnen weiteres Nass ersparte. Für ihn klang es wie unentwegtes Flügelschlagen eines riesigen Schwarmes von Schmetterlingen, die ein melancholisches Lied für ihn sangen. „Was ist mit meiner Freundin? Soll ich nun etwa allein nach ihr suchen?", formulierte sie ihren Vorwurf mit anklagender Stimme gegen ihn.

Ja, was war denn nun mit seinem Vorhaben, weswegen er zurückgekehrt war? Was mit den ganzen vermeintlichen Indizien, die er gesammelt hatte? Und was war mit Miranda? Ihr Schatten, längst aus dieser Stadt gewichen, lag schließlich noch immer über seiner Seele und seine Suche hatte kein Licht zutage gefördert, jenen Flecken endgültig davon zu entfernen. Zugleich war sein Körper durchdrungen von Kälte, durchzogen von Schmerzen, sein Geist ermüdet und schwach. „Es war töricht zu glauben, ich könnte mehr in Erfahrung bringen als die Hundertschaften der Polizei, die sich diesem Fall angenommen haben. Ich sollte nach Hause. Ich möchte weg von hier." Ein schelmisches Lächeln malte sich in ihr Gesicht. Für alle erdenklichen Situationen schien sie dieses im Repertoire zu haben. „Nach Hause? Wohin nachhause?", fragte sie. Zuerst belustigte ihn dies, dann jedoch begann es ihn zu ängstigen. Entsetzt musste er feststellen, dass er vergessen hatte, wo er wohnte.

„Ich hoffte", fuhr sie fort, sichtlich amüsiert von seinen verzweifelten Blicken, „dieser Ansatz sei der richtige. Ich glaubte, wenn du deine eigenen Erkenntnisse machst, wirst du eher zu sehen bereit sein. Dieses Mal täusche ich mich nicht. Ganz sicher."

„Wer bist du?", war alles, was ihm zu den kryptischen Worten einfiel. Ein Knoten, der sich in seiner Zunge gelöst hatte, dessen einziger Zweck bislang darin bestand, genau jene Frage nicht zu stellen. Dieses Mal lachte sie laut. Belustigt und süß wie Honig. Ihre Kleidung hatten nicht einen Tropfen Regenwasser abbekommen, sah er. „Ich habe keinen Namen. Er wäre ohnehin nur bedeutungsloser Klang in diesem kalten Regen. Du willst raus aus dieser Stadt? Nur zu. Es ist der letzte Teil deines Weges. Zuvor musst du dich jedoch noch an eine Sache erinnern."

Sie gab ihm zu verstehen, ihr zu folgen. Wie ein Hündchen an einer unsichtbaren Leine kam er ihrem kurzen Wink nach. Unter der schützenden Baumkrone hervor, hinein in den Regen, erklommen sie einen grasbewachsenen Hügel, von dem aus sie sowohl die Stadt wie auch das Ende der Straße, in weiter Ferne, erspähen konnten. In letztere Richtung deutete sie: „Der einzige Weg hinaus führt über die Brücke, die den Fluss überspannt. Die Bauarbeiter werden dich, unter normalen Umständen, jedoch nicht passieren lassen."

„Werden sie denn Gesichter haben?", frug das kleine verängstigte Kind, welches er war. Die fremde, vertraute Frau beugte sich zu ihm herab und nahm seine kleinen Händchen in die ihren: „Du musst keine Angst haben. All der Glanz und Schein, die Chimären in deinem Kopf, werden ohne Bedeutung sein, wenn du die Brücke passiert hast." Sein kleines Köpfchen war nicht dazu bereit, solche Worte zu deuten. Dennoch nickte er eifrig, um sein Verständnis zu signalisieren. Die erwachsene Frau sollte bloß nicht denken, er sei irgendwie dumm. Er war mindestens so klug wie Neil. Warum konnte Miranda nicht sehen, dass er viel besser war als dieser langhaarige Affe? Manchmal weinte er bei dem Gedanken daran, dass das Mädchen aus dem Rose Boulevard seine Liebe nicht erwiderte. Ihr bester Freund zu sein, war nur ein schwacher Trost. Ein kleines Pflaster für ein Loch in seiner Brust.

„Um hinter den Fluss zu kommen, musst du die Barriere durchbrechen", erklärte sie ihm. „Ich bin nur ein Kind", wollte er daraufhin rufen, „wie soll ich das tun? Wie kannst du das alles von mir verlangen?" Er schwieg, um nicht unangenehm aufzufallen. 

Sie verließen den Hügel auf der anderen Seite. Das nasse Gras erwies sich als uneben und rutschig, weshalb er sich, mit seinen kurzen Beinen, darauf konzentrieren musste, Schritt zu halten und dabei nicht ins Stolpern zu kommen.

In metallic-glänzendem Blau, präsentierte sich das riesige Fahrzeug, welches an einer verlassenen Tankstelle, mitten in einer Talsenke, parkte. Sechzehn Räder, acht Achsen. Fünfzig oder sechzig Fuß an Länge, einen gigantischen Kranarm, Faust eines Riesen, obenauf. Ein Ungetüm aus Stahl. Funkelaugen. „Das ist riesig", rief er begeistert aus. Sie packte den Jungen an den Hüften und hievte ihn zum Einstieg des Fahrzeugs hinauf. „Du wirst es selbst fahren, mein kleines Wunder. Du wirst damit die Barriere durchbrechen. Etwas, das Neil nicht konnte." Sein Kinderkopf wuchs unmittelbar zu alter Größe heran, als er auf dem Fahrersitz Platz nahm. Seine langen Beine reichten bis zu den Pedalen. Auf einmal wusste er genau, was zu tun ist. „Ich möchte niemanden verletzen", äußerte er seine Bedenken. „Du kannst nichts verletzten, das SIE nicht dafür vorgesehen hat. Durchbreche die Barriere und überzeuge SIE zurückzukehren."

Hunderte Schmetterlinge brachen plötzlich in seinen Bauch ein: „Sie? Ich habe sie in der blauen Hütte gesehen. Wird Miranda, hinter der Brücke, auf mich warten?"

„Gott wird auf dich warten", wisperte sie ihm zu, als der Motor dröhnend aufheulte und der stählerne Koloss sich träge in Bewegung setzte. Sein Kopf war wieder klar, sein Körper frei von Schmerzen. Ohne all dies realisierte er erst, was passierte. Die fremde Frau schickte ihn geradewegs in den Tod. Er versuchte die rollende Mordmaschine zum Stehen zu bringen, doch das Bremspedal erwies sich als so wirkungslos, wie die Lenkung. Wie auf Schienen führte sein Weg die Straße entlang. Unaufhaltsam wie ein rollender Felsbrocken. Als er stattdessen versuchen wollte, das Fahrzeug zu verlassen, fand er den Türöffner nicht. Die Tachonadel stieg weiter und weiter, das Fahrzeug gewann an Fahrt. Schneller, immer schneller. Durch die, vom Regen benetzte, Scheibe sah er die Brücke näherkommen. Absperrgitter und Flatterbänder, kleinere Baustellenfahrzeuge und Gerätschaften. Nichts davon würde dieses Gefährt aufhalten. In Panik versuchte er die Scheibe einzuschlagen, doch hielten sie sämtlichen seiner Versuche stand. In heller Aufruhr sah er die Bauarbeiter winken, auf und ab rennen, schließlich flüchten. Da durchbrach er bereits die erste Absperrung. Wie Papierfetzen flogen die Absperrgitter zu beiden Seiten weg. Er hielt sich die Augen zu und glaubte, entfernt Musik zu vernehmen: 

„Our bond won't ever sever."

Land der SchmetterlingeDove le storie prendono vita. Scoprilo ora