Intervall 01-04

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Das Vorspiel in den weißen Landen

Ventu, der Gelehrte und Heiler, am Hofe des Königs, hatte das Mahl zur Feier des Namenstags der Prinzessin in vollen Zügen genossen. Seit er sein Augenlicht vor vielen, vielen Jahren eingebüßt hatte, erlebte er derlei Festivitäten noch intensiver, denn als junger Mann. Er spürte die Klänge der Musik, den Sang der Sänger, die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer auf seiner Haut. Die Gerüche der üppigen Mahle vermischten sich mit denen der Gäste und ergaben eine Mixtur vielschichtiger Noten und Klänge. Ganz besonders an solchen Tagen vermisste er seine verlorene Sehkraft ganz und gar nicht. Zu sehr hatte diese sich und ihn auf Oberflächlichkeiten beschränkt. Jetzt, ob das er ohne jene Fähigkeit auskommen musste, nahm er die Dinge um sich herum um ein Vielfaches deutlicher wahr.

Auf seinem Platz, eine Stufe unterhalb des Tisches der Königsfamilie, hatte er sich von jeder der herrlichen Speisen einen Bissen gegönnt, den Gesprächen um sich herum gelauscht und war im Anschluss immer mal wieder dem Geschehen entschlummert. Das Alter hatte alles an ihm ein wenig träge werden lassen. So war er nach Mahlzeiten grundsätzlich dazu geneigt, ein kleines Nickerchen zu machen. Davon konnten ihn auch die zahlreichen Sinneseindrücke nicht bedeutend lange abhalten.

Hellwach im Geiste wurde er erst wieder, als er bemerkte, wie sich jemand neben ihn setzte. Ihr liebreizender Geruch eilte der Prinzessin Worte voraus. Täglich beschenkte sie den Hof mit ihrer Wonne. Niemand konnte sich ihrer Fröhlichkeit, ihrer vereinnahmenden Art, entziehen. „Und doch...", dachte sich Ventu, als er neuerlich diese schwache Aura von Traurigkeit wahrnahm, die sie seit geraumer Zeit aussandte, wenngleich ihre Stimme so glücklich klang, wie eh und je. Der blinde Ventu von vor vielen, vielen Jahren hätte derlei Nuancen nie und nimmer wahrgenommen. Der sehende Ventu hingegen, den er heute verkörperte, war für solche Dinge so anfällig wie ein Tier, welches ein fernes Unwetter wittert, während über den Menschen noch die Sonne lacht und strahlt.

„Man kann Euer Schnarchen hören, alter Mann", neckte sie ihn. Die Prinzessin nippte an ihrem, mit Pfirsich gesüßten, Wasser. Als das kluge Kind, welches sie war, mied sie den Wein. Nicht so ihr Vater, der bereits etliche Trinksprüche gesprochen hatte. „Die vielen köstlichen Speisen machen mich müde, meine Prinzessin. Sind sie doch das einzige Amüsement, welches ich voll auskosten darf." Er lächelte. „Amüsiert Ihr Euch denn ebenfalls gut, Prinzessin?", fragte er, sich der Tatsache bewusst, dass sie ihm nicht die Wahrheit erzählen würde. „Alles, was Rang und Namen hat, ist gekommen, um auf mich anzustoßen. Wie könnte mich das nicht amüsieren? Sie essen und trinken und tanzen und lachen." „Ihr hingegen tanzt und lacht nicht, meine Prinzessin." Sie trank erneut einen Schluck aus ihrem Kelch, um nicht sofort auf seine Frage antworten zu müssen. „Ich habe zu viel gegessen, weswegen ich geneigt bin, mich auszuruhen", log sie.

Ventu hingegen wusste, dass sie kaum etwas gegessen hatte, so wie sie schon seit Wochen nur spärlich Nahrung zu sich nahm, manches Mal gar ihr Frühstück unangerührt in die Küche zurückgehen ließ. Anfangs erfüllte ihn dies mit Sorge. So hatte er sich diesbezüglich an den König gewandt, doch hatte dieser nur abgewunken und ihm gesagt, er solle nicht überall Probleme vermuten, wo keine wären.

Über viele Bücher hatte Ventu sich zeitlebens Unmengen an Wissen angeeignet. Erst mit zunehmendem Alter, ereilte ihn jedoch die Erkenntnis, dass das Leben selbst ein beinahe ebenso wertvoller Lehrer war, so doch dessen Lektionen ihn etwas lehrten, wozu Bücher nicht imstande waren – Gespür und Intuition. Im Falle seiner geliebten Prinzessin war er sich mittlerweile ziemlich sicher, eine Antwort auf seine ursprüngliche Frage zu haben.

„So ruht Euch aus", riet er ihr, „und denkt daran, wenn Ihr jemals über etwas mit jemandem sprechen möchtet, auf dessen Verschwiegenheit Ihr zählen könnt, so denkt daran, dass ich für Euch da bin. Auch dann, wenn Ihr nur nicht tanzen wollt." 

„Ich weiß, dass Ihr immer ein offenes Ohr für mich haben werdet", sprach sie mit ihrer fröhlichen Stimme, beugte sich zu ihm herüber und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, ehe sie den Platz neben ihm verließ.

Es muss irgendwann in der Nacht gewesen sein, als Ventu schweißgebadet aus seinem Schlaf erwachte. Er schlief im untersten Geschoss des westlichen Rundturmes, in dessen Obergeschoss er sich eine kleine Bibliothek eingerichtet hatte. Als er noch jung und sehend gewesen, hatte er dort oben oft an einem der kleinen Fensterchen gesessen und sich mit seinen Büchern befasst. Heute zog er sich noch immer gerne dorthin zurück und genoss den Geruch vergangener Tage. Auch die Prinzessin hatte sich gerne dort aufgehalten und ihr Köpfchen in seine Schriften und Schmöker gesteckt. Seitdem ihr diese Traurigkeit anhaftete, hatte er sie jedoch nicht mehr dort oben bemerkt.

Er vernahm ein deutliches Rumpeln, ein Poltern aus seinem liebsten Zimmer des Schlosses. Der Rest des Königshauses schlief tief und fest nach den ausschweifenden Feierlichkeiten. Wer, wenn nicht die Prinzessin, die wie er, den Wein gemieden hatte, wäre noch dazu in der Lage, sich mitten in der Nacht in seiner Bibliothek aufzuhalten? „Ich werde mit ihr über ihre Traurigkeit sprechen und es dieses Mal nicht bei Andeutungen belassen", nahm sich Ventu vor und kletterte vorsichtig aus den Federn.

Schon beim Aufstieg der Wendeltreppe vernahm er dort, wie erwartet, den Wohlgeruch des Duftwassers der Prinzessin, die demnach erst kürzlich diesen Weg genommen haben musste. Ein neuerliches, nicht zuordenbares Poltern drang an seine Ohren. Er wurde stutzig. Sollte er lieber einen Wachmann benachrichtigen? Aus irgendeinem Grund entschied er sich dagegen, bahnte sich weiter seinen Weg vorwärts, zählte dabei, in Gedanken, die verbleibenden Stufen.

Als ihm noch fünf Schritte fehlten, bevor er nach der Türklinke greifen konnte, packte ihn die Angst. Ein Krachen, als hätte jemand eine Steinmauer eingerissen drang an seine Ohren und ließ ihn zusammenzucken. Die Stufen bebten unter seinen Füßen, sodass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Ein schriller Schrei ertönte. „Prinzessin?", rief er mit hoher Stimme. Ein neuer Geruch haftete sich derweil mit allergrößter Penetranz an seine Sinne. „Feuer", dachte er nur, erklomm rasch die letzten Stufen und stieß entschlossen die Tür zur Bibliothek auf. Ein scharfer Wind peitschte ihm ins Gesicht, doch vermisste er die Hitze der vermeintlichen Flammen. Er wollte just ihren Namen rufen, als er hoch über seinem Kopf ein lautes Brüllen vernahm. Er erstarrte. Sein Gespür, seine Intuition, aber auch sein Wissen lieferten ihm die Antwort, die er nicht wahrhaben wollte. 

„Ein Drache", murmelte er entsetzt, ehe er sein Bewusstsein verlor. 

Land der SchmetterlingeWhere stories live. Discover now