Intervall 02-01

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Der Fremde, der heimkehrte

Als er aus seinem kurzen Nickerchen erwachte, da war das muffige kleine Taxi, in welchem er saß, bereits auf den letzten Metern des Weges. Er erkannte die hohen Birken, die die Straße säumten, die langweiligen Reihenhäuser zu beiden Seiten mit ihren akkurat getrimmten Rasenflächen inmitten der, auf Hochglanz gebrachten, Vorgärten. Wie ein bedrückender, grauer Schleier legte sich der wolkenbehangene Himmel über diese spießige, kleine Vorhölle, die er seine Heimat, seinen Geburtsort, nannte. Warum war er gleich noch mal hierher zurückgekehrt? „Wir sind am Ziel, Meister", blökte der Fahrer, in der Annahme, sein Gast schlummere noch immer tief und fest. „Ich weiß", antwortete dieser ihm gähnend, „wie könnte ich denn nur meine Rückkehr in diesen goldlackierten Scheißhaufen verpassen?"

Die Vorboten des anstehenden Regenschauers begannen auf die Frontscheibe des Fahrzeugs zu prasseln, just in dem Moment, in welchem er die Beifahrertür öffnete. Ein kalter Luftzug schlug ihm entgegen und ließ ihn leicht schaudern. Er knöpfte sich den Mantel zu, stellte den Kragen auf, nahm seine kleine lederne Reisetasche aus dem Kofferraum und verabschiedete sich kurz angebunden von seinem kurzzeitigen Reisegefährten.

„Damals hat es auch geregnet", erinnerte er sich, als er die Straßenseite wechselte, „oder war es Schnee gewesen? Die Luft roch jedenfalls ebenso nach Tod." In einer kleinen Nebenstraße, nur etwa drei Minuten Fußweg entfernt, lag noch immer das kleine Hotel in dem er für eine gewisse Zeit abzusteigen gedachte. Bei dessen Anblick wurde ihm sofort wieder klar, weshalb er zwei Straßen weiter ausgestiegen war. Es verströmte Ruch. Nichts womit er in Verbindung gebracht werden wollte. ‚Hotel Colour'. Selten mochte ein solches Bauwerk einen wohl irreführenderen Namen getragen haben. Ein grauer Betonklotz war es. Das Grundstück eingezäunt von rostfleckigem Maschendrahtzaun, der Parkplatz dahinter größtenteils verwaist und mit Schlaglöchern übersät, in denen büschelweise das Unkraut spross. Der Kontrast zur Spießigkeit, aus der heraus er hierhergekommen war, hätte wohl kaum krasser ausfallen können. In dieser Gegend fand man die letzten Überreste des ehemaligen Arbeiterviertels, welche dem Einfall der Neu- und Altreichen von außerhalb noch immer standhielten wie eine letzte Bastion eines schmutzigen Lumpenheeres, das die Fahnen ihres untergegangenen Reiches schwang und sich der Erkenntnis verschloss, dass es den Krieg doch längst verloren hatte. Inmitten dieser Unwissenden und Wissensverweigerer fühlte er sich dennoch gleich viel wohler.

„Herzlich Willkommen im Hotel Colour", schallte ihm die freudige Stimme der hübschen Empfangsdame entgegen. Ein Mädchen eher. Braunes Haar mit leichtem Rotstich. Sie trug es offen, schulterlang. Helle Haut, braune Augen, so tief und voller Freude. Er sah noch immer ständig ihr Gesicht in denen anderer Menschen. „Ein Einzelzimmer für drei Tage bitte. Nichtraucher, kein Frühstück, kein zusätzlicher Schnickschnack", fasste er sich kurz, den Blick von ihr abgewandt. Er musste sich erst wieder an diese Stadt gewöhnen, die langsam zurückkehrende Erinnerung zulassen. Sein Zimmer war klein und eng und besaß lediglich ein kleines Fenster über dem Kopfende seines schmalen Bettes.

„Das genügt", dachte er sich nur, als er seinen feuchten Mantel auszog und über die Lehne des Stuhls warf, der unter ein kleines Tischlein geschoben war. Neben einem grünen Telefon und einer gläsernen Vase mit einer roten Rose darin, war dort auch eine alte Ausgabe der hiesigen Lokalzeitung zu finden. Die Schlagzeile bezog sich indirekt auch auf sein Kommen:

Vermisstenfall im Rose Blvd: Noch kein Tatverdächtiger!

Auch beim letzten Mal hatte man nichts gefunden, außer einer verängstigten Person und auch die unaufhörlich dahinwalzende Zeit brachte keine weiteren Erkenntnisse. Er erinnerte sich daran, als sei es gestern gewesen. „Damals hat es auch nach Tod gerochen", wiederholte er, als er durch das kleine Fenster nach draußen blickte. Das verschwundene Mädchen war genauso alt, wie Miranda es damals gewesen war, als vermeintlich die Erde sich aufgetan und sie verschluckt sowie sie anschließend nie mehr wieder preisgegeben hatte.

„Die gleiche Stadt, die gleiche Zeit, das gleiche Muster", war ihm in den Sinn gekommen, als die Nachricht am gestrigen Abend zu ihm durchgedrungen war und sofort hatte er sich aufgemacht, zurück in seine alte Heimat, aus der er vor langer Zeit Reißaus genommen hatte. Alles zwischen diesem Damals und dem Heute schien ein fieberhafter Traum gewesen zu sein, so kam es ihm zumindest vor. Der Fluch des Ungewissen, welches nie Erhellung finden durfte. Er kramte das kleine zylinderförmige Döschen, auf dem sein Name stand, aus seiner Reisetasche. Ein Geschenk, von welchem er sich nicht erinnern mochte, wer es ihm einstmals vermacht hatte. Er warf sich eine der kleinen roten Pillen ein, die er darin aufbewahrte, wie immer, wenn sein Kopf zu dröhnen begann.

Der Rose Boulevard war ein ebensolches Abziehbild des perfekten Vorortes. Makellosigkeit prägte das Bild, welches genauso gut aus einem Werbekatalog hätte stammen können. Kein Fahrzeug fuhr hier die Straße entlang, kein Mensch setzte sich dem sanften Nieselregen aus, welcher im Duett mit dem Wind die perfekte Stille durchbrach. Als er von weitem bereits die gelben Absperrbänder im Wind flattern sah, da wirkte es beinahe so, als hätte jemand, in bösester Absicht, eine hässliche, klaffende Wunde in jene Traumwelt gehackt. Der perfekte Rasen des Tatorts war zertrampelt von einer Vielzahl an Einsatzkräften, wie er es einem Bild, in der alten Zeitung aus seinem Hotelzimmer, entnehmen konnte. Die Rollläden des zweistöckigen Wohnhauses waren, zur Straßenseite hin, allesamt heruntergelassen. So direkt vor dem kleinen Kiesweg, welcher zu der weißen Haustüre führte, war die herrschende Stille für ihn am unerträglichsten.

Die Polizei würde in diesem Moment nach dem verschwundenen Mädchen suchen. Wie schon beim letzten Mal. Damals ohne Ergebnis – und heute? Eine dunkle Stimme aus seinem Inneren flüsterte ihm die Antwort auf jene Frage zu.

Er hob das Absperrband ein wenig an und schlüpfte darunter hindurch. In dieser gleichgültigen Stadt würde sich ohnehin niemand an seiner Präsenz stören. Das Grundstück und der dahinterliegende Garten, durch ein hüfthohes Eingangstürchen zu erreichen, waren von einer mannshohen, blickdichten Hecke umgeben. Würde diese irgendwen in, wie auch immer gearteter Intention, aufhalten? Wohl kaum. Durch den Wintergarten konnte er in das Innere des dunklen Hauses blicken, doch sah er nichts, was sein besonderes Interesse weckte. Ein lauter Pfiff ließ ihn prompt erschrocken zusammenzucken.

„Was machst du hier?", ertönte eine Stimme in seinem Rücken. Er drehte sich danach um und sah eine Person vor dem schmucken Gartenhäuschen stehen.

Land der SchmetterlingeWhere stories live. Discover now