Intervall 01-07

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Der Trug des Augenscheins

Als sie erwachten, erblickten sie Licht am Ende des Tunnels, in dem sie sich befanden. Nachdem sie sich orientiert hatten, sprach Frosch als Erster die offensichtlichen Fragen aus: „Was ist passiert? Wo sind wir?"

„Schwarze Magie", murmelte Hering unbeeindruckt. „Schwarze Magie", zeterte Frosch, „du tust das einfach so ab? Vor wenigen Augenblicken wurden alle unsere Brüder getötet. Wir wurden verfolgt, unsere Pferde abgeschlachtet und..."

„Wir leben noch", schnitt er Frosch das Wort ab, „und solange wir das tun, haben wir eine Aufgabe. Wir gehen unbeirrt weiter." Selbstredend hatte auch er Fragen, doch musste er, als Ranghöchster, auch Entschlossenheit zeigen. Bube ballte kämpferisch die Faust: „Der Hauptmann hat recht. Wir haben eine Mission. Lasst uns ins Licht schreiten."

„Hauptmann? Sicher", dachte er sich. Bar jeder Wahlmöglichkeit, folgten sie dem vorbestimmten Pfad und staunten letztlich nicht schlecht, als sie an das Ende jenes Tunnels gelangten. Ein Wald, zweifellos ein Wald. Aber nicht die Art Wald, die sie von zuhause kannten. Die Bäume hier waren anders. Dünnere Stämme, seltsame spitze Blätter an den Ästen tragend. Das Unterholz überwuchert von ebenso seltsamen Farnen und Gewächsen. Anstatt angenehmer Kühle, herrschte Hitze. Statt der geruhsamen Stille war die Luft erfüllt von Vogel- und Tiergeschrei. Unbeeindruckt ging er weiter und die drei Männer folgten ihm. Was sollten sie auch sonst tun? Ihr Vorankommen gestaltete sich schwierig durch das dichte Geflecht an Ranken und Büschen. Schweißgebadet entledigte man sich bald den schweren Brustharnischen. Als ihre Kräfte, ob der anhaltenden, drückenden Hitze, zu schwinden begannen, vernahmen sie das süße Rauschen von Wasser. Eine göttliche Fügung. „Hört sich an, als hätte sich eine Horde Engel zum gemeinsamen Pissen eingefunden", kommentierte er überglücklich. Seine Zunge war mittlerweile so trocken wie ein Streifen Leder und die Kameraden schienen nicht minder durstig.

Als sie aus dem Unterholz brachen, erstreckte sich nicht nur der schmale, langsam dahinplätschernde, Fluss vor ihren Augen, sondern ragte, weit über den Bäumen, auf der anderen Seite des Ufers, ein steinernes Ungetüm gen Himmel. Ein Gebäude, so riesig wie die heimische Kaserne, mit zahlreichen schmalen Rundtürmchen, welche sich, wie die Stacheln eines Igels, Richtung Wolken reckten. Trotz Froschs Protesten, wateten die vier Männer, kaum das sie sich am kühlen Nass gelabt hatten, durch den seichten, klaren Fluss auf die andere Seite. Sie schlugen sich durch das enge Dickicht, das wie eine Mauer den geheimnisvollen Steinbau zu schützen schien, und erreichten bald darauf eine Treppe, so breit wie vier nebeneinandergestellte Kutschen. Riesige, steinerne Götzen standen, zu beiden Seiten, entlang des Aufstiegs. Groteske Figuren mit Mäulern und Schnäbeln. Sie trugen außerdem Hörner, Helme und Masken, Schwerter, Äxte und Speere. Außer Frosch konnten die stummen Wächter jedoch niemanden erschrecken. „Das ist unser Verderben, ich spüre es", verwehte dessen Klagen wie ein Lied im Wind.

Er konnte es sich nicht erklären, doch fühlte es sich an, als leite man ihn an einem unsichtbaren Seil jene Treppe hinauf. Die Neugier in ihm war stärker als sein Unbehagen bezüglich dessen, was sie dort erwarten könnte. Und doch hatten sie, zur Sicherheit, wieder ihre Harnische angelegt. Am oberen Ende der Treppe schritten sie zwischen riesigen marmornen Säulen hindurch und betraten das Innere des riesenhaften Gebäudes durch ein klaffendes Loch in der dicken Wand. Dicke, rostige Scharniere zeugten von einem längst vergangenen Tor, welches einst unerwünschte Gäste ferngehalten hatte. Die Fackelhalter inmitten der weitläufigen Gänge waren vor langer Zeit erloschen und seitdem wohl nicht mehr angezündet worden. Die Männer folgten, nun in angenehmer Kühle, dem langen, modrig riechenden Gang, der sie in eine gigantische, runde Halle führte. Risse und Löcher im turmhohen Dach ließen den einst prächtigen Raum in diffusem Licht erstrahlen. Die Wände waren übersät von Fresken, die allerlei Motive, in verblassten Farben, zeigten: Heldenhafte Krieger und Magier in ausgedehnten Schlachten, lange Speere in der Hand. Frauen von größter Schönheit in den schönsten Kleidern, inmitten von Blumen und Wiesen. Wilde Tiere, die noch keiner von ihnen je zuvor gesehen hatte. Doch auch bekannte Kreaturen, wie Wölfe, Füchse oder gar Tauben und Spatzen waren zu sehen. Und zwischen ihnen allen tummelten sich Schmetterlinge. Winzig wirkende, blaue Schmetterlinge.

Nicht lange blieben ihre Blicke auf den verewigten Kunstwerken haften, fing doch ein überlebensgroßes Bildnis am Wandverlauf, auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, sämtlichen Augenschein ein. Eine Maid, zierlich und schlank mit langem, braunem Haar. Schöner als alle anderen Weiber, die hier die Wände zierten. „Ist das unsere Prinzessin?", fragte Frosch. Seine Stimme hallte von allen Seiten wider. Ja, das war sie. Zweifellos. Aber wie konnte das nur sein?

„Still", zischte er, als er Geräusche vernahm. Unter Mirandas Porträt war ein weiterer Durchgang, den er bislang nicht bemerkt hatte, aus dem aber der vernommene Lärm zu dringen schien. Langsam, aber vorsichtig drängten sie zurück in den Schatten. Vier Männer schritten durch jenen Eingang. Sie waren bewaffnet, doch wirkten sie ausgelaugt und regelrecht zerlumpt. Ihrerseits im Schatten, konnte man nurmehr ihre Umrisse erkennen. „Das sind unsere Brüder", rief Bube und trat aus dem Dunkel, ehe er ihn rechtzeitig davon abhalten konnte. Die fremden Männer zogen ihre Schwerter, als sie bemerkten, dass sich ihnen jemand näherte. „Wer da? Gebt euch zu erkennen", forderte eine wohlbekannte Stimme sie alle auf. „Wir sind Soldaten der weißen Lande. Westlicher Spähtrupp der Expedition hinter die Grenzmauern", antwortete er, während er ebenfalls in das Licht vorpreschte, wohl darauf bedacht der Situation im Vorhinein ihre Anspannung zu nehmen. „Wir sind der östliche Spähtrupp", antwortete man ihnen mit einer gewissen Erleichterung.

„Gott sei gedankt, wir sind nicht die einzigen Überlebenden", hörte er Frosch im Hintergrund frohlocken. Aus irgendeinem Grund spürte er plötzlich eine, kaum wahrnehmbare, Unrast in der Luft. Bube, der auf die Männer zugesteuert, war unvermittelt stehengeblieben. Dessen Gesicht zeigte Blässe, als er zu ihm aufschloss. Der grüne Junge deutete auf ihre Brüder und flüsterte mit zittriger Stimme: „Das sind wir."

Schockiert erkannte er sein eigenes Gesicht auf einem der fremden Männer. Seines und das von Hering, Frosch und Bube. Wie ein Blick in einen non-existenten Spiegel. Eiskalter Schauer jagte ihm über den Rücken und entfesselte in ihm das hilflose Gefühl, etwas vergessen zu haben. Eine gähnende Leere in seiner Erinnerung.

„Schwarze Magie", hörte er Hering rufen, als dieser surrend sein Schwert aus der Scheide riss und, wie die anderen Männer, schließlich zum tödlichen Tanz antrat.

„Für den König! Für die Königin! FÜR DIE PRINZESSIN!"

Land der SchmetterlingeWhere stories live. Discover now