Intervall 02-04

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Erinnerung an das Monster in der Nacht

„Katie und ich kochen uns immer etwas", klagte Miranda, während Neil den Flyer des örtlichen Pizzadienstes studierte, indessen er mit dem schnurlosen Telefon ihrer Eltern hantierte. „Ich bin eher so der Lieferdienst-Typ", murmelte er gedankenversunken. Viel lieber als hier mit der kleinen Freundin seiner Zwillingsschwester herumzusitzen, hätte er mit Freunden im Keller seines besten Kumpels abgehangen. Bei lauter Musik, Pizza und Bier. Seine Alten würden ihn vermutlich köpfen, wenn sie wüssten, dass er bereits Alkohol trank. Nun aber saß er hier, weil Katie mit dem Kopf über der Kloschüssel hing und er, in vermeintlich völliger geistiger Umnachtung, ihre Bitte, sie kurzfristig zu vertreten, nicht ausschlagen konnte.

„Ich nehme die Hawaii, möchtest du auch was?", fragte er Miranda und warf ihr gekonnt den Flyer zu, welcher, wie ein Frisbee rotierend, in ihrem Schoß landete. „Margherita", antwortete sie murrend und warf den Werbewisch von sich weg, auf den Couchtisch. Nach seiner Bestellung knipste er das Fernsehen an. „Unsere Soap läuft gleich", nölte sie wieder. Sie war beinahe so nervig, wie seine Schwester. Auch Katie zog sich zuhause, jedes Mal schmachtend, diese verflucht nervige und unrealistische Herzeleid-Schnulze rein. Weiberkram. „Ich schaue lieber MTV", erklärte er und schaltete um. Ein Video seiner Lieblingsband flimmerte gerade über den Schirm. Perfektes Timing.

„Die Butterflies. Mach doch mal lauter", überraschte Miranda ihn.

„Du kennst die Butterflies? Ernsthaft?"

In seiner Vorstellung standen zwölfjährige Mädchen auf „weichgespülte Schönlinge, die anspruchslose Liedchen trällern", wie es sein Onkel einst einmal treffend formulierte und Miranda hatte er bis jetzt für ein ebensolches Mädchen gehalten. Er machte den Fernseher lauter, wie sie es sich gewünscht hatte.

Sie wippte mit dem Kopf im Takt der Musik und bewegte stumm die Lippen zu dem Text. Ihr schulterlanges Haar wippte dabei eifrig hin und her. Demnach kannte sie tatsächlich, was sie sah und hörte. „Oh, ich habe Katies Dose vergessen", rief sie plötzlich, stand auf und rannte barfuß aus dem Wohnzimmer. Neil hörte ihre dumpfen Schritte von den Treppenstufen, welche in den oberen Stock führten, widerhallen. Katies Dose? Das Mädchen war schon irgendwie ein wenig seltsam. Fraglos besaß sie jedoch einen sehr feinen Musikgeschmack. Sie kam zurück mit einer Bierdose in der Hand und warf sie ihm in den Schoß.

„Katie deponiert immer eine davon bei mir, bevor sie vorbeikommt. Sie meinte am Telefon zu mir, du könntest sie gerne haben, wenn du sie schon vertrittst." Verwundert starrte Neil von dem Bier zu dem Mädchen und wieder hin und her. „Danke", entfuhr es ihm. Zuhause mimte Katie stets das unschuldige Ding, Papas Liebling, und dann sowas. Er musste unweigerlich grinsen.

Von einem Zischen begleitet, öffnete er sein Getränk und nahm einen Schluck, währenddessen das Mädchen ihn unentwegt anstarrte. „Willst du auch?", war das einzige, das ihm dazu einfiel. Beinahe schüchtern musterte sie das Bier in seiner Hand. Mit ihrem, zu rosarot verfärbten, Teint wirkte sie beinahe...ihm fiel kein Wort dazu ein, welches für ihn gepasst hätte. „Ich trinke kein Bier. Katie sagt immer, ich solle besser die Finger davonlassen", entgegnete sie ihm. „Ach, lässt Katie etwa die Finger davon? Versuch ruhig mal, ich sag's auch niemandem", antwortete er und bot ihr, mit Nachdruck, das zimmerwarme Bier an.

Sie griff zu und nahm einige große Schluck, bis sie schließlich hustete. Er nahm die Dose wieder entgegen und musste unweigerlich lachen: „Nicht so gierig, lass mir auch noch was." Obwohl sie hustete, musste sie lachen, was sehr ulkig klang und ebenso aussah.

„Mein Kopf, alles dreht sich", klagte sie jedoch wenige Minuten später. Für Neil kaum verwunderlich. Sein erstes Bier hatte er, im Beisein seines Onkels, ähnlich schnell getrunken und da war nicht nur sein Kopf, sondern auch sein Magen am Rotieren gewesen. „Leg' dich einfach um", riet er ihr, was sie auch tat. Er nahm die Decke vom Fußende der Couch und deckte das Mädchen damit zu, strich ihr das kastanienbraune Haar aus dem Gesicht. „Danke, du bist soooo süß", war ihre Reaktion darauf. Er stockte kurz, während sie ihn anlächelte.

„Ich hol dir einen kühlen Waschlappen", stammelte er verlegen und suchte rasch das Badezimmer auf. Irgendwie war sie ja doch ein wenig...niedlich. Nein! Das war nur Katies kleine Freundin. Was war los mit ihm? Er warf sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht und blickte in den hell erleuchteten Badezimmerspiegel. Sie war fast drei Jahre jünger als er und eigentlich stand er auf Lea aus seiner Parallelklasse.

Als das Licht im Bad zu flackern begann, dachte er sich zunächst nichts dabei. Er schnappte sich einen Waschlappen und befeuchtete ihn mit kühlem Wasser. „Du bist soooo süß", flüsterte es ihm ins Ohr. Erschrocken fuhr er herum, doch war hinter ihm nur die verschlossene, weiße Badezimmertür. Er strich mit der Hand durch seine lange Mähne und holte tief Luft. „Krieg dich wieder ein", schalte er sich selbst mit leiser Stimme.

Er griff nach dem Türknauf, als sämtliche Lampen im Bad mit lautem Knall erdunkelten. Der Schreck übermannte ihn so sehr, dass er das Gleichgewicht verlor und in den Flur stolperte, wo er gegen die Wand prallte und gerade noch verhindern konnte, auf seinen Knien oder seinem Hintern zu landen.

„Erzähl mir, was an dem Tag geschehen ist", forderte eine Männerstimme. So langsam bekam er es mit der Angst zu tun. Das ganze Haus war derweil in Dunkelheit getaucht. Einzig aus dem Wohnzimmer drang schwach das Flimmern des Fernsehers durch die Schwärze. Der Lichtschalter im Flur war tot. „Miranda?", rief er mit zittriger Stimme. Er musste erfahren, wo sich der Sicherungskasten befand. Miranda antwortete ihm nicht. Er torkelte, dem konstanten Flimmern des Fernsehens folgend, zurück in das Wohnzimmer.

Nur schwerlich konnte er sich an das erinnern, was er anschließend gesehen hatte. Ein Schemen eines nackten, von Kopf bis Fuß tätowierten Mannes, mit leuchtenden Augen. Es sah so aus, als ob er in Flammen stünde. Lebendiges Feuer. Die kleine Miranda in seinem rechten Arm würde er hingegen nie vergessen. Sie sah nicht verängstigt, sondern einfach nur traurig aus. Eine Träne bahnte sich stumm den Weg ihre linke Wange herab. „Neil", wisperte sie mit dünner Stimme.

Er hatte nicht geschrien, als er das Blut spritzen sah. Er hatte nie wieder geschrien, nachdem man ihm an diesem Abend einen Teil seiner Seele entrissen hatte. 

Land der SchmetterlingeWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu