Intervall 02-02

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Die Fremde und die Vertrautheit, welche sie verströmte

Sein Kaffee war so schwarz wie ihr schulterlanges Haar. Ein wallender, kosmischer Strom in der Unendlichkeit. Die Mandelmilch, die er beigab, verwandelte sein Getränk in ihre Augen. Cremefarben und warm – und so seltsam vertraut.

„Sie war eine gute Freundin aus meiner Schule", antwortete sie mit ihrer glockenhellen Stimme und holte ihn zurück in die Realität. Sie war so viel jünger als er. So hübsch. „Was?", gab er nur verwirrt zurück und fühlte sich sogleich wie bei etwas Verbotenem ertappt. „Das verschwundene Mädchen", konkretisierte sie und lächelte beinahe spitzbübisch angesichts der betretenen Reaktion ihres Gegenübers. Für einen Moment sah er Miranda vor seinem inneren Auge, welche sich nach und nach in eine Gesichtslose aus dem Rose Boulevard verwandelte.

„Was hast du im Garten ihrer Eltern gesucht?", hakte sie nach, als seine Erwiderung ausblieb. Eine Frage, die auch er ihr hätte stellen können. Nun war sie ihm zuvorgekommen, wie auch schon eine halbe Stunde zuvor, als sie ihn von hinten überrascht hatte. „Es gab hier einen ähnlichen Fall vor vielen Jahren", antwortete er. Welch dämliche Antwort. Er stocherte in seinem Apfelkuchen umher, während sie die letzten Reste ihrer Sahnetorte zusammenkratzte: „Ich habe davon gehört. Ihr Mörder sitzt angeblich noch immer in der Geschlossenen."

„Kein Mord. Eine Leiche wurde nie gefunden", konterte er. Mochte er nach all den Jahren doch immer noch nicht glauben, dass Miranda tot war, so lag doch wenig Überzeugung in seiner Stimme. Der letzte Strohhalm, an welchem er hing, war mittlerweile nicht mehr als ein dünnes Fädchen im Wind. Was, wenn ein Sturm aufziehen würde? Was wenn der Nieselregen da draußen nur dessen Vorbote war?

„Eine Blutspur von ihr wurde gefunden. Und ihr Babysitter befand sich im Haus, in dem alle Ausgänge verriegelt und verrammelt waren – von innen", parierte sie den halbherzigen Versuch, die Risse in seinem Trugbild nicht weiter aufreißen zu lassen, und stach erneut auf ihn ein. Er antwortete nicht mehr, legte schweigend seine Gabel nieder und nahm einen viel zu heißen Schluck aus seiner Kaffeetasse. „Du kanntest das Mädchen von damals?", durchbohrte sie erneut die Stille. War diese Frau etwa der Donner, der den Sturm ankündigte? Er nickte stumm, während er auf ihren leeren Teller stierte. „Miranda hieß sie, nicht einfach nur Mädchen", murmelte eine Stimme tief in ihm drinnen. Seine Finger kribbelten, doch er mochte vor den vertrauten Augen dieser fremden Frau keine Pillen einwerfen, nicht wie ein verfluchter Junkie wirken.

Sie lächelte über sein krudes Gebaren einfach hinweg: „Sie suchen in Hundertschaften in den Wäldern, die unsere Stadt umgeben. Sie haben Hunde bei sich. Sogar Helikopter mit Wärmebildkameras seien im Einsatz." Ihre ruhige Art, jenes unangebrachte Amüsement in ihrer Stimme, die kecken, unverschämt leuchtenden Augen. Dieses widerstreitende Verhalten, so gänzlich unpassend zur aktuellen Situation, verunsicherte ihn. „Es ist das gleiche Muster wie vor vielen Jahren. Der Babysitter von damals kann es heute nicht gewesen sein. Wer auch immer deine Bekannte also getötet oder hat verschwinden lassen, der hat auch hier und heute seine Finger im Spiel."

Ja! Exakt jenes Gefühl hatte ihn hierher zurückgeführt. Das war es gewesen. Oder? Was aber wollte diese junge Frau von ihm? Warum erzählte sie ihm derlei Dinge? Warum nur wirkten ihre Augen so vertraut?

„Warum glaubst du das?", fragte er.

„Weil ich weiß, dass du dies ebenfalls glaubst", antwortete sie.

„Das kannst du nicht wissen."

„Ich weiß, was ich wissen muss. Ebenso weiß ich, dass du ihn sprechen wirst."

„Wen?"

„Den Mann, der den wahren Täter kennt. Der gesehen hat, was damals passierte."

„Neil", sprach er den Namen aus wie einen Fluch.

Er erinnerte sich an den schlaksigen jungen Mann mit den wilden, schwarzen Haaren und dem stets arroganten Lächeln. An jenem folgenschweren Tag war er Mirandas ‚Aufpasser' gewesen. Sie und ihre Eltern hatten sich ja seit jeher gegen den Begriff ‚Babysitter' gewehrt. Immerhin zählte Miranda zur damaligen Zeit bereits zwölf Jahre. Neils jüngere Schwester Katie, die diesen Job sonst immer ausfüllte, war äußerst kurzfristig unpässlich geworden und so war ihr Bruder letztlich als Notnagel eingesprungen. Ein Halbstarker, ein Angeber - aber kein Mörder.

„Sie werden mich nicht mit ihm sprechen lassen", verabschiedete er sich von seiner, und möglicherweise auch ihrer, kleinen Träumerei. Wie konnte er auch wissen, was ihre Intentionen waren? „Oh, da mach' dir keine Sorgen. Sie werden dich mit ihm sprechen lassen", da hatte sie wieder dieses fröhliche Lächeln auf den Lippen, „darauf gebe ich dir mein Wort." Sie bezahlte ihre Rechnung und verabschiedete sich von ihm. Während er ihr hinterherstarrte, als sie das kleine Café verließ, begann sich ein unwohles Gefühl in ihm auszubreiten.

Irgendetwas passte für ihn nicht zusammen, so als wären ihm lose Puzzleteile aus den Händen geglitten und in alle Winde verstreut worden. Diese Fremde hatte ihm die Gedanken aus dem Kopf extrahiert und sie ihm lächelnd vorgetragen. „Ich weiß, was ich wissen muss", hatte sie ihm erzählt. Wusste sie mehr als er wusste? Andererseits, was wusste er schon?

Als er am Vormittag sein Taxi verlassen und in den Dunst dieser verfluchten Stadt eingetaucht war, waren alle vergangenen Ereignisse zu einem verdammten Strom in der ewigen Zeit verkommen. So erinnerte er sich plötzlich an Dinge, die ihm zwischenzeitlich entfallen waren und versuchte sich, auf der anderen Seite, an gedankliche Nebelschwaden zu klammern, die von ihm wegzudriften schienen.

„Neil", wiederholte er den in sein Hirn zurückgekehrten Namen, als er sich, wieder im Hotel angekommen, auf sein Bett setzte und gierig eine weitere rote Pille hinunterschluckte. Mirandas Aufpasser hatte nie mehr ein Wort gesprochen seit jenem fatalen Tag in ihrer aller Leben. Neil würde auch nicht mit ihm sprechen, egal wie groß der Wunsch nach dessen Sicht der Dinge auch sein mochte.

Als er sich umlegte und die Augen schloss, träumte er von der Psychiatrie, in welcher dieser nunmehr erwachsene Mann untergebracht war. Vertrautheit umschloss den Träumenden, so sanft wie Daunenfedern, so zart wie liebste Küsse.  

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