Intervall 01-09

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Die Illusion der Vergangenheit

„Geht immer gerade aus", so hatte es die gütige Frau verkündet. So folgten Bube und er dem einzigen Pfad, der ihnen blieb. Ohne Hering, ohne Frosch. Beide hatten die Mission mit ihrem Leben bezahlt, den Pfad der Wanderer rot eingefärbt, wie all ihre anderen Brüder bereits vor ihnen. Eiseskälte umschloss die letzten beiden langsam, aber bestimmt. Die Konturen der Welt verloren sich zusehends unter einer dicken Schneedecke. Er glaubte, als Kind einmal Schnee gesehen zu haben, doch in seiner bildhaften Erinnerung sah er nur Regen.

„Glaubst du, wir werden sie finden? Oder wird der Pfad für uns ebenso enden wie für Frosch?", frug ihn Bube, während dabei eisige Wölkchen aus seinem Munde in die Höhe aufstiegen. „Ich weiß es nicht", war seine ehrliche Antwort darauf. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, gewiss nicht, doch bereitete es ihm Mühe, jenen Glauben an ein gutes Ende aufrechtzuerhalten. „Ich bete dafür", fuhr Bube zähneklappernd fort, „dass wir sie lebend finden und dass wir sie retten können. Ich bin bereit gegen jedes Monster anzutreten, das sich mir in den Weg stellt. Der Hauptmann hat es nie ausgesprochen, aber seine Männer munkelten stets, wir würden einen Drachen jagen." Er nickte, wenngleich er nicht mehr wusste, wann sich jenes Gerücht in seinem Hirn zu einer Tatsache verdichtet hatte. „Wenn ich muss, werde ich auch einen Drachen besiegen", murmelte der grüne Junge vor sich hin, „für Miranda werde ich jeden Drachen dieser Welt besiegen." Er hielt inne: „Woher kennst du ihren Namen?" Des Jungen Augen verrieten, wie angestrengt er nach einer Lüge suchte, doch seine Stimme täuschte weiter Souveränität vor: „Jeder am Hofe kennt ihren Namen."

„Du bist ein Freiwilliger, kein Soldat. Was war deine Profession, bevor du dich uns angeschlossen hast." Er ließ nicht locker. „Ich war der Lehrling eines Küfers, doch tut dies nichts zur Sache. Meine Entschlossenheit ist größer als die eines jeden anderen."

„Wir Soldaten haben unser Leben zum Schutze der Königsfamilie und des Königreichs eingeschworen. Wir sind der Ehre halber losgezogen. Das freiwillige Gesindel hingegen strebt nach Gold und Ruhm. Nach was strebst du?" Der Junge begann zu stottern. „Du liebst sie", entwaffnete er ihn gänzlich. Hätte sein Kopf nicht derart gedröhnt, wäre ihm beinahe nach einem siegesgewissen Lächeln zumute gewesen.

„Ich..ich", suchte Bube nach Worten, doch dann winkte er ab und stapfte weiter durch die knöchelhohen Schneewehen. Der Wind tobte heulend um ihre Köpfe, begann scharf wie ein Schwert, durch sämtliche Stoffe zu schneiden, die sie am Leibe trugen. Ein Taubheitsgefühl kroch, von seinen Fingerspitzen ausgehend, in Richtung seiner Mittelhand, sodass er beide Hände unter seine Achseln klemmen musste. Ihm war bereits nicht mehr möglich zu sagen, wie viele Meter sie in diesem Schneegestöber bereits zurückgelegt hatten, ehe Bube endlich damit begann zu erzählen: „Ich habe sie einst beim Frühlingsfest in der Südstadt kennengelernt. Sie hatte sich dort, in Begleitung eines blinden, alten Mannes, unter das einfache Volk gemischt. Mit ihrer lieblichen Stimme hat sie für die Kinder gesungen, auch für meine kleine Schwester. So bin ich das erste Mal auf sie aufmerksam geworden. Sie trug ein einfaches Kleid und Blumen im Haar. Ihr Lachen war so herzlich. Später habe ich allen meinen Mut zusammengenommen und sie zum Tanz aufgefordert. Sie hat nicht abgelehnt. Ich habe ihr tief in die Augen geschaut und sie mir. Das hat ein Feuer entfacht. Ein Feuer, welches uns beide ergriff und loderte."

Er rümpfte die Nase: „Und woher willst du wissen, dass sie nicht nur ein einfaches Bauernmädchen war?" Bube kramte etwas unter seinem Harnisch hervor: „Sie hat mir das hier gegeben." Ein Ding, welches er an einer dünnen Kordel um den Hals trug. Jenes Ding entpuppte sich als mattgoldener Siegelring mit den Insignien des Königs. „Wir haben uns danach immer wieder getroffen. Zusammen gelacht, unsere Träume und Ängste geteilt. Ich...". Der Junge rang nach Worten. „Du hast Recht, ich liebe sie. Ich liebe sie von ganzem Herzen. Doch ein Drache hat sie mir gestohlen und ich werde nicht eher ruhen, bis ich ihn erschlagen habe."

Sichtlich irritiert, schwieg er zu Bubes Worten und dessen tränenfunkelnden Augen. War dies nicht seine eigene Geschichte? Hatte Miranda nicht für ihn gesungen? Mit ihm getanzt und gelacht? Nein. Er war Soldat und kein Küferlehrling. Er kämpfte im großen Krieg gegen die Bergmenschen. Seine Liebe war sein Schwert, welches er dem gefürchteten Bergkönig ins Herz gejagt hatte. Sein Kopf schmerzte immer heftiger. Fast so, als ob ein Schwarm Insekten von innen gegen seine Schädeldecke drängte.

Aus dem Schneegestöber wurde ein Sturm. Eisige Winde peitschten ihnen in die Gesichter. Schneeflocken, wilde, weiße Schmetterlinge, tobten durch die Lüfte, hafteten sich an die Kleider der Männer, setzten sich in ihren Haaren fest. Der gefrorene Schnee an ihren Stiefeln erschwerte das Weiterkommen. Zweifel erlaubte er sich jedoch nicht. Wenn der Junge nicht zweifelte, durfte er es auch nicht. Und so quälte er sich weiter voran. Schritt um Schritt. Gleich ob seine Waden schmerzten, er seine Zehen kaum mehr spürte und sein Kopf kurz vorm Zerbersten stand. Er stemmte sich gegen den Sturm, bis dieser den Kampf gewann. Beim letzten Schritt knickte er um, taumelte rücklings zu Boden und versank zur Hälfte im Schnee. Er war weich gefallen. Vermutlich, weil er ohnehin kaum mehr etwas spürte. „Auf die Beine, Soldat", rief der Junge und packte ihn an seinen tauben Händen. Bube war fest entschlossen, diesen Pfad bis zum Ende zu gehen. „Geht immer gerade aus", so hatte es die gütige Frau verkündet. Es schien eine Ewigkeit her. Auch konnte er sich nicht mehr erinnern, wie sie überhaupt in diesen Sturm geraten konnten. Wie waren sie zur gütigen Frau gekommen? Splitter seiner Erinnerung, die aus seinem Kopf gebrochen waren. Als Kind, so glaubte er, hatte er einmal Schnee gesehen. In seiner bildhaften Erinnerung sah er hingegen nur Regen.

Als er wieder auf beiden Beinen stand, schwang sich Bubes Arm stützend um seine Hüfte. „Wir müssen weiter. Wir haben einen Drachen zu töten", rief der entschlossene Junge gegen den Sturm an, doch war sein verzweifeltes Rufen nur ein Wispern am Ende der Welt. Da tauchte aus dem weißen Schmetterlingsschwarm ein schwarzer Turm in der Ferne auf. Der größte, den er jemals gesehen hatte, wie er glaubte. Als sie sich ihm näherten, war es, als traten sie durch eine Wand aus Eis. Unter ihren Füßen erstreckten sich plötzlich saftige, grüne Wiesen, über ihnen war blauer Himmel. Bunte Schmetterlinge flatterten dicht über den weitläufigen Blumenteppichen und gaben dabei kein Geräusch von sich. „Danke", flüsterte er dem Jungen zu, während er die Wärme genoss, die langsam der Kälte in seinem Körper wich. „Ohne dich wäre ich nicht hier, ich...wie heißt du überhaupt, Junge?" Bube schüttelte sich derweil die Eiskristalle aus seinem wilden, schwarzen Haar.

„Neil", antwortete er, „mein Name lautet Neil. Ich dachte, du würdest nie fragen."

Land der SchmetterlingeKde žijí příběhy. Začni objevovat