Intervall 02-08

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Lass mich nicht im Regen stehen

Als er letztlich überhastet die Bibliothek verließ, geriet er ins Stolpern und stürzte auf das Pflaster des Gehsteigs. „Nein, nein, nein." Sein Pillendöschen war ihm dabei aus der Tasche geglitten und rollte unaufhaltsam auf das nahe gelegene Abflussgitter zu, in welchem es verschwand. Mit aller Macht versuchte er anschließend das schwere Stahlgitter anzuheben, doch war er bereits nach wenigen Versuchen außer Puste. Desillusioniert torkelte er bis zur nächsten Straßenlaterne, wo er sich übergeben musste. Sein Kopf dröhnte, seine Glieder schmerzten. Die alte Pein hatte die Kontrolle übernommen. „Es ist diese Stadt", schimpfte er. Er musste weg von hier. Raus aus diesem gefräßigen Moloch mit seinen riesigen Gebäuden, diesen Giganten aus Glas und Stahl, die wie hässliche Pilze gen Himmel wuchsen und dort die Sonne verdunkelten. Schwarzer Regen begann auf ihn niederzuprasseln. „Sie hatten keine Gesichter. Keine Gesichter. Das waren keine Menschen", keuchte er, wankte durch den kalten Regen und hielt nach einem Taxi Ausschau, welches ihn schnellstmöglich von hier wegbringen sollte.

Die Straßen jedoch waren leer. Keine Autos, keine Menschenseele. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er geglaubt, in einer Art erloschener Hölle zu wandern. Hinter manchen Fenstern war Lichtschein zu vernehmen, doch war es das einzige Zeichen, dass ihm so etwas wie Leben zumindest vorgaukelte. Er sah sich selbst in den Spiegelungen der Schaufenster. Ein zerbrechliches Abziehbild eines Mannes, gebeugt und verängstigt. Manchmal glaubte er, im Laufen, Miranda oder gar Neil aus dem Augenwinkel zu sehen, doch war da stets nur sein eigenes, trauriges Spiegelbild, wenn er den Kopf nach ihnen drehte.

Zurück im Hotel Colour war er erleichtert, endlich wieder in ein menschliches Gesicht zu blicken. War dieser junge, schlaksige Kerl heute Morgen schon an der Rezeption gestanden? „Ein Taxi. Können Sie mir bitte ein Taxi rufen?" Zunächst etwas irritiert, wohl durch die besorgniserregende Erscheinung, die sich ihm bot, nahm der junge Mann den Telefonhörer ab und kontaktierte ein örtliches Taxiunternehmen. „Danke", malte die Erleichterung ein Grinsen auf seine Lippen. Nachdem er seinen durchnässten Mantel ausgezogen hatte, ließ er sich auf einem nahen Stuhl an der Wand nieder. Es fühlte sich tatsächlich gut an, für einen Moment durchzuschnaufen. Die Zeitung auf dem Tischchen neben sich, war die gleiche, die er bei seiner Ankunft vor zwei Tagen, auf seinem Zimmer vorgefunden hatte.

Vermisstenfall im Rose Blvd: Noch kein Tatverdächtiger!

„Gibt es Neuigkeiten von dem Rose-Blvd-Mädchen?", fragte er eher beiläufig, während er, Ablenkung suchend, jenes lokale Schmierblättchen durchforstete, welches, größtenteils vollgestopft mit Werbung und Irrelevanz daherkam. „Wie meinen Sie?", erkundigte sich der schlaksige Rezeptionist, so als hätte er die Frage nicht verstanden. „Na, das verschwundene Mädchen, nach dem man in den Wäldern gesucht hat. Polizei, Hundestaffel, Helikopter. Liest du keine Zeitung?"

„Tut mir Leid, davon weiß ich nichts", kam nach einer kurzen Pause zurück. Obwohl das Pochen gegen seinen Kopf noch präsent war, wurde er dennoch wütend. Damals war es nicht anders gewesen. Als Miranda verschwand, interessierte es die Menschen ebenso wenig wie heute. Ein bisschen geheuchelte Anteilnahme hier, ein paar warme Worte da, um seinen Pflichtanteil geleistet zu haben. Und zwei Wochen später erinnerte sich kaum noch jemand an ihren Namen, während inzwischen der nächsten Schlagzeile alle Präsenz und Aufmerksamkeit galt. Er stand auf und warf die Zeitung auf den Tresen. An den Rändern prangten noch seine feuchten Fingerabdrücke, mit der er die Druckerschwärze verwischt hatte: „Hier steht es auf der ersten Seite. Ein ganzer Artikel. Vielleicht solltest du dich mal informieren."

Der Junge warf einen kurzen Blick auf die Zeitung, dann lächelte er. Ein Lächeln, dass er ihm am liebsten aus dem Gesicht geprügelt hätte. „Was ist so lustig?", hakte er mit fast schon aggressivem Unterton nach. „Da steht nichts über ein Mädchen, mein Herr", antwortete er und schob ihm die Zeitung wieder unter die Nase. Jemand hatte den Regler für die Schwerkraft aufgedreht, denn sein Körper wurde mit einem Schlag träge, seine Knie weich. Vor ihm waren alle Seiten weiß und leer. Er nahm das Blatt auf und durchforstete sämtliche Seiten. Dann knüllte er das wertlose Papier zusammen und warf es unwirsch zu Boden. Er tastete nach seiner leeren Brusttasche. Keine Pillen mehr. Sie lagen in irgendeinem Ablaufgitter. Die Ratten konnten sich nun daran laben. Er schlug mit der Faust auf den Tresen, sodass eine nahe Topfpflanze zu Boden fiel. Das Zerbersten des Tontopfes erklang wie ein Synonym für sein bisheriges Leben.

„Mein Herr, bitte beruhigen und setzen Sie sich", erklang es von weiter Ferne, bis er den Schatten dieses unerträglichen Burschens in seinem Augenwinkel vernahm. „Du hast das gemacht", er erhob drohend den Finger, senkte diesen jedoch augenblicklich, als er den Jungen ansah.

Eine wandelnde Staffelei aus Fleisch und Knochen, die Leinwand leer und trostlos. Sie mochte wohl die Hölle zeigen. Langsam wich er zurück. „Was haben Sie denn? Warten Sie hier. Ihr Taxi wird gleich eintreffen", riet ihm die gesichtslose Gestalt, Ausgeburt dieser alptraumhaften Stadt. Er machte auf dem Absatz kehrt und stürmte Richtung Ausgang. Draußen atmete er die stickige, feuchte Luft in seine Lungen und begann zu rennen. Er rannte durch die leeren Straßen, versuchte sich zu erinnern, welches der schnellstmögliche Weg aus dieser Stadt war.

Seine Muskeln brannten, sein Atem rasselte, als er die letzten Häuser hinter sich ließ und nur noch Wald und Wiese, freie Ackerflächen, wie auch die graue Straße vor ihm lag. Er erinnerte sich an eine Brücke, die über einen Fluss führte. Irgendwie fühlte es sich wie eine Erinnerung aus seiner Kindheit an, aber er war sich sicher, dass er diesen Weg gekommen war. Er bewegte sich in die richtige Richtung, verlangsamte seine Schritte. Die Stadt im Rücken, fühlte er sich gleich viel wohler, wenngleich sein Körper schmerzte und zitterte. Durchnässt und fröstelnd, da er seine Jacke im Hotel hatte liegen lassen, fiel ihm, aus irgendeinem Grund, eine weitere Strophe des Liedes ein, welches er, aus dieser blauen Hütte kommend, gehört hatte.

„I walked hundred miles to get to you, through grief and hope and pain.

Now I'm at the end of an empty street, don't left me in the rain.

In the darkest place I'll search for you, I'll never leave you. Never!

Other than the butterflies, our bond won't ever sever."

„Das war schön", erreichte ihn eine Stimme aus dem Nebel. Es war sie. Eigentlich hätte er wütend auf sie sein müssen, doch jetzt gerade war er einfach nur erleichtert, ihr Gesicht, unter diesem schwarzen Regenschirm hervorlugen, zu sehen. Zumindest hatte sie ein Gesicht. Eines, das ihm noch immer sehr vertraut vorkam. 

Land der SchmetterlingeWhere stories live. Discover now