Intervall 02-05

2 0 2
                                    

Aus Zwei wird Eins

Als die Sonne ihre Strahlen durch das kleine Fenster warf und ihn sanft im Gesicht kitzelte, erwachte er, mit dröhnendem Schädel, auf seinem Bett im Hotel Colour. Instinktiv tastete er nach seinen roten Pillen, um eine davon zu schlucken. „Was für ein wilder Traum", erinnerte er sich und ließ die Trugbilder der Nacht noch einmal Revue passieren, während er unter die enge Dusche in seinem viel zu kleinen Badezimmer schlüpfte. Das kalte Wasser empfand er dabei als eine wahre Wohltat.

Kaum war er aus der Duschkabine gestiegen, da klopfte es an seiner Zimmertüre. Er trocknete sich grob ab und warf anschließend einen Blick durch den Türspion. Dort stand SIE. Woher wusste sie, wo er wohnte? „Einen Moment", rief er und verschaffte sich so Zeit zum Ankleiden. Als er die Tür öffnete, war da wieder dieses Lächeln, das ihn einhüllte und bezirzte, wie eine geruchlose Wolke aus Parfüm.

„Du hast mich angerufen. Welche Neuigkeiten hast du, die die Cops nicht haben?" Er hatte sie angerufen? „Du wolltest, dass ich mit Neil spreche", erinnerte er sie. In seinem wirren, nächtlichen Narrenspiel war er ebenjenem Neil begegnet und auch Miranda. Sie hatte so traurig ausgesehen. Dann war da nur noch Blut gewesen. „Wieso sollte ich wollen, dass du den Mörder dieses Mädchens sprichst?", reagierte sie überaus irritiert. „Miranda, nicht Mädchen", dachte er, „ihr Name war Miranda."

Er stockte. Hatte er Teile der gestrigen Unterhaltung mit ihr ebenfalls nur geträumt? Hatte sie Neil schon immer als Mörder bezeichnet? Seit er sich wieder in den Krallen dieser grässlichen Stadt wähnte, fühlte er sich wie in einer Spirale, die ihm kontinuierlich das Hirn verquirlte und seine Grenzen zwischen Realität und Erinnerung zu einer homogenen Masse zerfließen ließ. Er erzählte ihr von seinem Traum, über jedes Detail, an das er sich erinnern konnte. Währenddessen saß sie auf seinem Bett und hörte ihm aufmerksam zu, ohne Zwischenfragen zu stellen. Als er fertig war, waren seine Haare getrocknet und sein Gegenüber fuhr sich, beinahe etwas überfordert wirkend, durch die ihren.

„Dieser tätowierte Mann", sie blickte ihn mit ihren mandelfarbenen Augen an, „du bist sicher, dass er der Mörder deiner kleinen Bekannten ist?"

„Neil ist unschuldig", beharrte er und erntete dafür einen argwöhnischen Blick.

„Und ich kann nicht sagen, ob sie tot ist", fügte er rasch an, auch um das letzte Glimmen seiner Hoffnung am Leben zu erhalten.

„Weil du es geträumt hast?", hakte sie mit leicht sarkastischem Unterton nach.

Er nickte. Diese Stadt mochte ihn an seinem Verstand zweifeln lassen, doch er war kein kranker Spinner. „Hast du eine bessere Idee?", fuhr er sie schroffer an, als er ursprünglich intendiert hatte, aber die aufgestaute Verzweiflung trieb ihn offenbar so weit.

„Ich jedenfalls, werde dem nachgehen", insistierte er, „wenn es für dich zu bekloppt klingt, musst du nicht mitkommen."

Sie lächelte nur entwaffnend. Entgegen seiner Erwartung begleitete sie ihn. Wenn er ehrlich zu sich war, so war er doch irgendwo glücklich darüber, dass sie nicht von seiner Seite wich. Ganz gleich, ob sie ihn für einen Verrückten hielt, irgendeine unerklärliche Verbindung spürte er, nach wie vor, zu ihr und ihren merkwürdig vertrauten Augen. Vielleicht war sie selbst ja auch ein wenig verrückt. Das wäre zumindest nichts, was ihn groß kümmern würde.

„Deine Schulfreundin", erkundigte er sich bei ihr, in der Befürchtung eine weitere Information aus ihrem gestrigen Gespräch falsch oder nicht eingeordnet zu haben, „weshalb suchst du noch mal nach ihr?"

„Ich stand ihr nahe, sehr nahe und ich vertraue den Cops nicht", erklärte sie ihm.

„Aber ich habe dir die Geschichte doch lang und breit erzählt?"

„Richtig, richtig", wiegelte er den peinlichen Moment sofort ab. Es stand tatsächlich noch beschissener um sein Gedächtnis, als er ursprünglich angenommen hatte und trotzdem wusste er nicht so recht, ob ihn dieser Umstand nun beunruhigen oder ob er sich vielmehr auf sein eigentliches Ziel konzentrieren sollte.

Das größte Tattoostudio der Stadt war ihr erstes Ziel. Was er suchte, sollte doch unter denen bekannt sein, die sich eingehend mit der Körperkunst befassen.

Eine leichte Note Desinfektionsmittel stieg ihm in die Nase, als sie den weiß-gekachelten Vorraum betraten. Hier drinnen war es genauso hell, wie in den Gängen der Psychiatrie, von der er geträumt hatte, wie er feststellte. Das junge Ding, hinter der Theke hockend, glich einem kleinen Kunstwerk aus Tinte, Metall und Haarspray. Die ideale Werbung für jene Virtuosität, die in diesen grellweißen Wänden zur meisterlichen Vollendung gebracht wurde. Zumindest wenn man der, recht überheblich klingenden, Eigenreklame des Studios Glauben schenkte. Das Kunstwerk blickte von ihrer geistlosen Zeitschrift auf, in der sie blätterte, und musterte ihre vermeintlichen Kunden mit skeptischem Blick, fast so, als seien gerade zwei buntlackierte Hunde in das Studio eingeflogen.

„Hast du Termin?"

Ihre Stimme klang so schrecklich, wie man es bei ihrem Äußeren vermuten konnte. In ihrem jungenhaften Dekolleté prangte ein blauer Schmetterling, so groß wie seine Hand, der ihm prompt ins Auge fiel.

„Nein", entgegnete er höflich.

„Ohne Termin nichts möglich", erntete er dafür.
Er hasste sogar, wie sie sprach.

„Wir wollen keine Tätowierung. Wir suchen stattdessen einen Mann mit Ganzkörpertattoo."

Er versuchte die Gestalt aus seinem Traum so genau wie möglich zu beschreiben.

„Hört sich nach was an, was die Biker vom Nordclub sich immer haben stechen lassen. Haben sich aber aufgelöst. Ist besser. Mag die alle nicht. Mein Boss hat die persönlich immer abgefertigt. Hat gesagt ‚Mädchen, mit denen willst du nix zu tun haben'. Das hat er gesagt. Ist aber nicht da, der Boss. Nur Zoe und Kink."

Warum hatte er nur nie von diesem Nordclub gehört oder konnte er sich lediglich nicht mehr daran erinnern? Hatte er wirklich so viel vergessen?

„Danke. Du hast uns tatsächlich geholfen. Wann wird dein Vorgesetzter zurückkehren, damit wir mit ihm sprechen können?" Jetzt stand sie überraschend von ihrem Stuhl auf, blickte interessiert über die Theke hinweg und suchte mit ihren Augen den Boden des Studios ab.

„Sag mal, Meister", fragte sie mit ihrer nervtötenden Stimme, „warum redeste immer von ‚Wir'? Außer dir ist doch niemand da."

Land der SchmetterlingeWhere stories live. Discover now