Intervall 01-08

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Ein Lied von Verlockung, Wahnsinn und Tod

Er wusch sich das Blut seiner Gegner von den Händen. Das Bild von seinem Schwert, das in seinem eigenen Gesicht steckte, wie die Axt in einem Baumstumpf, verfolgte ihn noch immer. Daraufhin hatte er Hering getötet. Mittels eines wütenden Hiebes. Nicht seinen Kameraden, sondern den falschen Hering. Diesen Schatten. Dieses Monster. Er wusste nicht, als was er diese vier Spiegelbilder sonst hätte bezeichnen sollen.

Wie Milch floss das Wasser zäh und still dahin, so wie es wohl schon immer gewesen war. Leises Schluchzen fremder Menschen drang an seine Ohren. Auf kleinen Inseln, in den Nebeln der Fluten, hatten sie sich gesammelt und beweinten dort namenlose Gräber. Einige von ihnen hatten die drei Fremden bemerkt, die da durch das knöcheltiefe Wasser wateten. Misstrauische, aber auch neugierige Blicke hafteten sich folglich an ihre Fersen. Frosch murmelte unentwegt vor sich hin, Bube schwieg. Und er? Nun, er versuchte noch immer an etwas anderes, als an den blutüberströmten, wie leblosen Körper seines Kameraden zu denken. „Ohne Hering sind wir nur noch Einer und zwei Halbe", dachte er sich. Der Himmel über ihnen war dunkel. Sterne leuchteten am schwarzen Firmament, wie feurige Kirschen am Baum des Pechs, des Elends, der Trauer. Wo auch immer sie gewesen waren, wie auch immer sie von dort hinfort und nach hierher gekommen waren, es blieb ihm ein Rätsel. Gewiss so, wie ihm alles mittlerweile ein einzig großes Rätsel schien.

„Die Abwesenheit eurer Tränen macht den meisten Menschen hier Angst", erklärte die gütige Frau im schwarzen Kapuzenmantel. Ihr Gesicht war alt und grau, doch ihre einstigen Lachfalten kaum zu übersehen. „Wir haben keinen Grund zu jammern", erwiderte er trotzig, während er sich das Gesicht am Ärmel seines Wamses abtrocknete. „Eure Prinzessin ist nicht hier", erklärte die gütige Frau ihm nun bereis zum zehnten Mal. Er war es leid, das zu hören. Sein Schädel dröhnte. „Hier", die gütige Frau reichte ihm etwas. Ein zylinderförmiges Ding. „Wann immer euer Verdruss am größten ist", erklärte sie, „wird es helfen, euren Schmerz zu ertragen." Er musterte das Geschenk und steckte es in die Tasche seines Wamses. Wertloser Tand, doch mochte er nicht unhöflich sein. „Weshalb weinen all diese Leute?", wollte Bube wissen. Kaum aus seiner Lethargie erwacht, interessierte sich der grüne Junge für derlei Trivialitäten. Am liebsten hätte er ihn dafür geschlagen.

Die Frau deutete zu einer Gruppe von Menschen in edlen Kleidern, vorwiegend Damen, die sich, auf einer kleinen Insel, um einen mannshohen Grabstein scharten. „Diese dort beweinen den Verlust ihrer Dienstherrin." Etwas weiter draußen in der Dunkelheit waren Speerträger um ein Feuer versammelt. Leises Gemurmel drang von dort an die drei verbliebenen Männer heran. „Das stolze Kriegervolk dort hinten, trauert auf ihre Weise um das geliebte Weib ihres Heerführers", erklärte die gütige Frau. Verwundert musste er sich die Augen reiben, als sie an einer weiteren Insel vorbeikamen, auf welcher eine ganze Reihe von Tieren, betrübt um eine Grube, umherstreiften. „Wir Menschen sind nicht die einzigen, die zu Schwermut fähig sind. Selbst das Vieh und Getier vermisst jemanden in ihrer Mitte, wenngleich sie keine Kummertränen zu weinen imstande sind."

„Kummertränen", platzte es unvermittelt aus Bube heraus. Er kramte etwas aus seiner Hosentasche, dass nach einem Stück Pergament aussah und begann davon abzulesen:

„Melancholie und Kummertränen / lieblich Hymne Exitus

Hypnotisch' Wunsch ich mir erträume / unvermeidbar bleibt der Schluss."

„Wo hast du das her?", wollte er von dem Jungen wissen. „Ich habe es meinem Doppelgänger aus der Tasche gezogen." Plötzlich kramte er ein zweites Pergament hervor und wedelte damit vor ihrer aller Augen umher: „Dieses hier habe ich in der blauen Hütte, in dem verlassenen Dorf gefunden. Die Botschaft ist aber eine andere." Er entriss Bube das Stück Papier. Wann hatte er vorgehabt, ihnen dies mitzuteilen? Hatte dieser Narr noch andere Geheimnisse vor seinen Kameraden? Er las jene zweite Botschaft, doch konnte er sich darauf ebenso wenig einen Reim machen, wie auf die erste.

„Haltet euch fern von der blauen Hütte", mahnte die gütige Frau indes, „ihre Verlockungen sind der Untergang der Wahrheit."

„Moment mal", schaltete sich nun Frosch dazwischen und sprach direkt zur gütigen Frau, „du weißt von dem verlassenen Dorf? Kannst du uns den Weg zurück nach Hause zeigen?" Zum ersten Mal seit sie sie getroffen hatten, verschwand die gute Miene der alten Frau hinter einer Maske aufrichtiger Traurigkeit: „Es gibt kein zuhause, zu dem ihr zurückkehren könnt. Alle Seelen sind verloren."

„Da ist der Gesang wieder", tönte Bube und preschte augenblicklich in die leere Dunkelheit vor. Unter seinen Stiefeln spritzte das warme Wasser empor und benetzte ihre Gesichter, wie ein Nebel aus Honig. Feucht und klebrig. Die Wölfe von der Tierinsel begannen aufgeregt zu jaulen.

„Ich höre es ebenfalls", rief Frosch, beinahe entzückt und begann Bube zu folgen.

„Bleibt hier, das ist ein Befehl", rief er seinen beiden Kameraden hinterher, doch ignorierten sie sein Rufen. Als er ihnen folgen wollte, packte die gütige Frau ihn am Arm: „Geh nicht. Es gibt dort nichts für euch. Bleibt bei mir. Nehmt euren Verlust hin."

Von Befremden befallen blickte er in ihre traurigen Augen. Ich kenne sie. Er schüttelte ihren Griff ab, folgte nun ebenfalls dem lieblichen Gesang, der seine Ohren umschmeichelte, der sein Herz höher schlagen ließ, ihn lockte und an sich riss. Aus einem unnatürlichen, bläulichen Lichtschein tauchte sie vor ihnen auf. Das Fundament auf eine winzige Insel gebettet, welche wie das Blatt eines Baumes in diesem dunklen Fluss unter dem Sternenhimmel schwamm. Liebliche Melodien, von einer fremden Zunge vorgetragen, drangen durch die winzigen Schlitze der Holzbretter, wie auch das Licht eines guten dutzend an Fackeln. Eine Hütte, schlicht und behaglich, in einem grellen Blau gefärbt.

Seine Schritte wurden behäbiger, so als ob er sich seinen Weg durch tiefen Schlamm bahnen müsste. Winzige Schatten begannen wie wild das Licht in der Hütte zu brechen. „Motten", rief Bube und hielt für einen kurzen Moment inne, sodass Frosch imstande war, ihn zu überholen.

Der Gesang war nun laut und deutlich zu vernehmen. Wie ein Blitz schlug er in seinem Hirn ein. Die Prinzessin...Miranda...sie hatte mir etwas vorgesungen. Ab diesem Zeitpunkt war er überzeugt davon, dass Miranda ihnen nahe war. Als Frosch jedoch die Türe der Hütte aufstieß, blieb nur noch sein markerschütternder Schrei zurück. Ein Lied von Verlockung, Wahnsinn und Tod. Er hielt sich die Ohren zu und bereute jede Entscheidung, die er je getroffen hatte. Nur welche davon war die schlimmste von allen?

Land der SchmetterlingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt