Kapitel 26

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Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich schließlich wieder beruhigt hatte. Als ich mich endgültig vom Anblick meiner toten Oma lösen konnte, verließ ich den Raum ohne mich nochmal umzudrehen. Ich war wie in Trance. Ich füllte die Formulare aus, die ich als Blutsverwandte zu Oma ausfüllen sollte, und verließ dann schweigend das Krankenhaus. Ich wusste nicht, was mir Ran, Rindou und Mikey war. Es interessierte mich auch nicht. Ich wollte nur nach Hause, mich in mein Bett legen und niemanden mehr sehen. Und genau das tat ich auch. Zu Hause angekommen, zog ich mich um, ging duschen und legte mich ins Bett. Ich schaltete das Licht aus und starrte an die Decke. Tausende von Erinnerungen an meine Kindheit hielten mich wach. Ich dachte zurück, an die Tage, an denen ich mit Oma nach Yokohama gefahren sind. Wir haben zusammen unglaublich viele Orte besucht. Jetzt würde ich so etwas nie mehr machen können. 

Mein Handy klingelte andauernd, weshalb ich es einfach ausschaltete. Ich wusste nicht, wie lange ich in meinem Bett lag. Stunden oder Tage. Ich wusste es nicht. Mir war selbst egal, ob mein unentschuldigtes Fehlen in der Schule irgendwelche Nachwirkungen haben würde. Ich kauerte in meinem dunklen Zimmer und weinte ununterbrochen. 

Als ich nach 3 Tagen zum ersten Mal wieder auf mein Handy geschaut hatte, sah ich 25 verpasste Anrufe von Ran, 30 von Rindou und 12 von Mikey. Dazu unzählige Nachrichten, die sie mir alle geschickt hatten. Doch ich reagierte nicht darauf. Stattdessen entschloss ich mich, endlich wieder vor die Tür zu gehen. Also zog ich mir einen schwarzen Hoodie und eine schwarze Leggins an, schlüpfte in meine Turnschuhe, schnappte mir die Schlüssel und verließ meine Wohnung. Draußen war es angenehm kühl und der Mond stand schon hoch am Himmel. Unbekümmert lief ich los. Ich hatte ein ganz bestimmtes Ziel im Kopf. Als ich nach einer Stunde ankam, stellte ich mich an das Geländer der großen Brücke und ließ meinen Blick auf das dunkle Wasser schweifen, dessen Wellen sich durch den Wind leicht hin und her bewegten. Das Licht des Mondes spiegelte sich im Wasser und ließ es glitzern. Wäre ich nicht in einer so beschissenen Verfassung gewesen, hätte ich diesen Anblick genossen. "Hier bist du also." ich sah nach links und sah Mikey da stehen, die Hände locker in den Hosentaschen verborgen. Ich sah wieder aufs Wasser. Mikey folgte meinem Blick und seine Stimme klang leicht panisch. "Willst...willst du etwa springen?" fragte er vorsichtig. Ich sah ihn immer noch nicht an. "Du musst dir keine Sorgen machen. Von diesem Sturz stirbt man nicht." antwortete ich resigniert. "Woher willst du das wissen?" fragte er, mit dem Hauch einer Vorahnung. "Als ich damals aus Hanmas Händen befreit wurde, ging ich auch an diesen Ort. Zu dem Zeitpunkt dachte ich nicht an meine Oma, oder an meine Freunde. Ich wollte mein Leben beenden, aus dieser furchtbaren Welt fliehen. Also sprang ich hier runter. Ich landete in dem eiskalten Wasser und versuchte möglichst schnell zu ertrinken. Von dem Sturz hatte ich ein paar Prellungen. Aber ich starb einfach nicht. Schließlich gab ich auf und schwamm wieder an die Oberfläche." erklärte ich und dachte an jene Nacht zurück. Die Polizei hatte mich nackt auf einem Bett gefunden, auf welchem Hanma seine Späße mit mir gehabt hatte. Ich erinnere mich noch genau, wie blutig die Laken waren und wie sehr ich Angst hatte, von den Polizisten berührt zu werden. Ich wollte in jener Nacht sterben. Aber das Schicksal hatte es mir nicht gewährt. "Verstehe. Aber was machst du dann hier?" fragte Mikey. "Ich wollte versuchen zu akzeptieren, was passiert ist. Und auch, Omas letzten Wunsch zu erfüllen. Ich solle ein glückliches Leben führen und ihr nicht so schnell folgen. Ich ging hierher, um zu begreifen, dass ich ihren Wunsch erfüllen muss. Wenn ich jetzt sterben würde, wäre Oma bestimmt sauer auf mich." sagte ich. Mikey kam näher, stellte sich neben mich und sah hinaus aufs Wasser. "Wenn ich sagen würde, ich wüsste, wie du dich fühlst, müsste ich lügen. Es ist unglaublich schwer den Tod eines geliebten Menschen zu akzeptieren." Ich wusste sofort, dass er von seinem Bruder sprach. "Es ist schwer. Gerade jetzt. Aber du musst weiter machen. Es bringt nichts, nur am Leben zu bleiben, weil es der Wunsch der verstorbenen Person ist. Du musst einen Grund finden, wieso du leben möchtest. Einen richtigen Grund." Er drehte sich zu mir und sah mich ernst an. "Hast du einen Grund?" fragte er sanft. Ich dachte über seine Worte nach. Er hatte recht. Wenn ich nur wegen dem Wunsch meiner Oma weiterleben würde, wäre mein Leben eine Verschwendung. Ich brauchte einen Grund. Und in diesem Moment entschied ich mich, dass mein Grund der war, der sich genau vor mir befand. Ich drehte mich also entschlossen zu Mikey um und sah ihn an. "Ja. Du bist es." seine Augen weiteten sich überrascht. "Du bist der Grund, wieso ich leben will, Mikey. Ich will leben. An deiner Seite. Zusammen." sagte ich und wartete gespannt auf seine Reaktion. "Dann...ist das also deine Antwort?" fragte er unsicher. Seine Frage bezog sich auf zwei verschiedene Dinge gleichzeitig. Einmal das er wirklich der Grund für meine weitere Existenz darstellte und zum anderen die Antwort auf sein Liebesgeständnis. Ich nickte entschlossen. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem lächeln und er umarmte mich. Seinen Kopf drückte er in meine Halsbeuge und hielt mich ganz fest. Ich legte meine Arme um ihn und legte meinen Kopf an seine Brust. Und erneut kamen mir die Tränen. Diese ganze Situation war so unrealistisch, dass ich begann zu weinen und zu lachen. Dieser ganze Wahnsinn schlug mir mit einem Mal in die Fresse und endlich kapierte ich richtig, was in den letzten Wochen und Monaten passiert war. Ich weinte an Mikeys Brust, über den Tod meiner Oma, über das Finden meiner Geschwister, über meine neuen Freundschaften, über meinen Posten bei der Tokyo-Manji-Gang und über die Tatsache, dass ich mich in Mikey verliebt hatte. Ich weinte und lachte all meine Gefühle hinaus und ließ mich von Mikey halten. Als ich mich beruhigte, merkte ich erst, dass Mikeys Schultern bebten. Ich löste mich von ihm und sah ihn an. Seine Augen waren geschwollen und Salzreste von seinen Tränen zierten seine Wangen. Und trotzdem lag ein Lächeln auf seinen Lippen, als er mich ansah. Wir wischten uns gegenseitig die noch übrig gebliebenen Tränen vom Gesicht und sahen uns dann an. "Dann sind wir nun offiziell zusammen?" fragte er mich schließlich in die Stille hinein. Ich nickte nur und beugte mich dann vor. Ich schloss meine Augen und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ehe ich mich mit hochrotem Kopf wieder zurückzog. Sein Mund war leicht geöffnet, so überrascht schien er zu sein. Doch dann lächelte er wieder, zog mich sanft an sich ran, legte seine Hand an meine Wange und überbrückte die letzten Zentimeter, die uns noch voneinander trennten. Seine Lippen legten sich warm auf meine. Es war, als würden sie perfekt zueinander passen. Der Kuss war vorsichtig und sanft, doch er war so unglaublich zärtlich und schön, dass ich mich am liebsten für immer in diesem Moment verloren hätte. Ich legte meine Hände in seinen Nacken und spielte mit seinen Haaren. Als wir uns wieder voneinander lösten, sah er mich mit einem lieblichen Funkeln in den Augen an. "Du machst mich zum glücklichsten Menschen der Welt, Yuna Yoshioka." hauchte er und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Meinen vollen Namen aus seinem Mund zu hören, klang ungewohnt, aber auch schön. Ich schmiegte mich an ihn, genoss seine Nähe und seine Wärme. Wir waren zusammen. Wir empfanden beide die gleichen Gefühle füreinander. War das Zufall? Das alles kam mir so surreal vor, dass ich nur noch an Schicksal glaubte. Es war Schicksal gewesen, dass uns unsere Wege zueinander geführt haben. Wie Oma gesagt hat. Alles wird so kommen, wie es kommen soll. Und für diesen einen Moment, glaubte ich auch daran. Daran, dass auch ich in meinem Leben etwas Glück geschenkt bekommen hatte. 

Durch die Zeit, durch das LeidOnde histórias criam vida. Descubra agora