Ertappt

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Er erreichte das Stadttor und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der Torwache zu erregen. Doch ehe er sein Anliegen vorbringen konnte, hörte er Eugenes Stimme hinter sich.

»Pierre! Was hast du vor?«

Er presste die Lippen zusammen. Das war genau das, was ihm noch gefehlt hatte. Wollte Eugene ihm nicht Zeit bis zum Abendessen geben? Pierre drehte sich langsam zu seinem Bruder herum. »Eugene. Was tust du hier?«

»Ich habe mir Sorgen gemacht, dass du etwas Dummes tun könntest. Und wie ich sehe, hatte ich recht. Was hast du vor?«

»Ich wollte mich mit den Torwachen unterhalten. Ich sehe nichts Verwerfliches daran.«

Hinter Pierre scharrte eine der Wachen mit dem Fuß. Der lederne Harnisch quietschte. Griff der Mann nach dem Torriegel?

Pierre wagte es nicht, sich umzusehen.

Eugene schüttelte den Kopf. »Was willst du in Erfahrung bringen, so kurz vor Tagesende? Lass uns zurückgehen und zu Abend essen.«

Pierre wich einen halben Schritt zurück. Eugenes Blick war zu starr, seine Stimme zu emotionslos, um etwas Gutes zu verheißen. Er hatte eine dumpfe Ahnung dessen, was kommen würde. Aber er sah keinen Ausweg. Nicht, wenn die Torwachen nicht das Tor öffneten und hinter ihm sofort wieder schlossen, ehe Eugene ihm folgen konnte. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht besonders hungrig und würde lieber noch etwas spazieren gehen. Außerdem werden sich die Ketzer sicher bei Nacht treffen, wenn wie sie nicht sehen. Wir könnten ihnen so in die Quere kommen.«

Eugene wackelte mit dem Kopf wie ein neugieriger Ruckato. »Bist du dir sicher, dass du nach Ketzern suchen willst?«

Pierre nickte. Seine Kehle war zu trocken, um zu antworten.

Der deutete mit den Augen hinter sich. »Du kannst sie nach dem Essen suchen. Der Papst wird nicht erfreut sein, wenn wir zu spät kommen.«

Pierre spähte über seine Schulter zu den Torwachen. Niemand hatte den Ausgang geöffnet. Warum auch? Er nickte. »Vielleicht hast du recht. Sie werden sich kaum vor der Nacht treffen, wenn sie ungestört sein wollen.« Er folgte Eugen zum Palast zurück. Auf dem Weg öffnete sich kein magischer Fluchtweg, es gab nicht einmal einen Zwischenfall, den er zur Flucht hätte nutzen können. Nur ein paar Bauern und Händler waren noch unterwegs, trieben ihre schwerbeladenen Ruckatos durch die sandigen Straßen den Ställen zu. Sie schenkten den beiden Sternen nur einen kurzen Gruß, wenn überhaupt. Pierre seufzte, als sie vor den Toren des Palastes standen. So würde er also zu Ende gehen, sein Traum von einem geruhsamen Leben. Er hätte damals die Kapelle verlassen sollen, als er den Rang eines Mönches erreicht hatte. Am besten hätte er die Kapelle gar nicht erst betreten, sondern auf die reguläre Weihe gewartet. Aber für all das war es zu spät. Und alles nur, weil sie einen abtrünnigen Mönch suchen sollten, der nicht einmal eine Gefahr darstellte, weil er sich lieber unter Ameisen als unter Menschen aufhielt.

Der Papst, Simon und Gustave warteten im Speisesaal auf die beiden jungen Männer. Gratian stand auf, als sie eingetreten waren, schritt auf sie zu und blieb schließlich vor Pierre stehen. Er ignorierte den Gruß der beiden Sterne. Sein Blick ruhte auf Pierres Haupt. »Ich habe viele schlimme Dinge über dich gehört, Pierre Estelle. Pierre Novice.«

Pierre zuckte zusammen. Er sah Gratian nicht an.

»Du sollst in der Wildnis engen Kontakt zu dem Abtrünnigen gepflegt und lange mit ihm geredet haben. Dein Bruder sagte mir, dass du sogar in den verbotenen Büchern gelesen hast.« Der Papst schnalzte mit der Zunge. »Es ist Ketzerei, in den verbotenen Büchern zu lesen. Noch schlimmer, als Stern ist es Hochverrat, sich in die Dinge einzumischen, die den Äbten vorbehalten sind. Es war eine kluge Entscheidung deines Bruders, mir von deinen Fehlern zu berichten. Ich hätte sonst angefangen, dir zu vertrauen.« Gratian kehrte zu seinem Platz am Tisch zurück.

Pierre sah auf. Er wollte etwas erwidern, aber er fand keine Worte.

Der Papst verschränkte die Hände. Sein Blick bohrte sich in den des Sterns. »Weshalb warst du allein in der Stadt?«

Pierre antwortete nicht.

Gratian wandte sich an Eugene. »Wo hast du ihn gefunden?«

»Am südlichen Tor. Ich nehme an, dass er die Stadt verlassen und in die Wildnis zurückkehren wollte.«

»Zurück zu diesen, wie war der Name nochmal? Ist auch egal. Hast du etwas dazu zu sagen, Pierre? Ist da draußen vielleicht noch etwas, was wir wissen sollten?«

Pierre wandte den Kopf ab. Er stieß ein unterdrücktes Seufzen aus.

»Wie auch immer. Eugene Estelle, bring den Abtrünnigen in den Palastkerker. Ich muss mit den Äbten über sein Schicksal entscheiden. Morgen nach dem Frühstück. Bis dahin hat er Zeit, seine Sprache wiederzufinden. Es würde mich doch sehr interessieren, was er in der Wildnis versteckt hält.«

Eugene packte Pierres Arm und zog ihn hinter sich her in den Keller des Palastes. Dort sperrte er ihn in eine Kammer, vier Schritte im Quadrat, in der sich rein gar nichts befand. Er schloss die schwere Metalltür, deren Schloss sich klickend verriegelte. Pierre blieb allein in der Dunkelheit zurück. Er ließ sich an der Wand gegenüber der Tür auf den Boden gleiten und seufzte. Nein, das war nicht das, was er sich für sein Leben oder das Ende seines Lebens vorgestellt hatte. Was würden sie wohl mit einem Verräter tun? Auf welche Weise richtete man auf dem Gestein Verbrecher hin? Seine Mundwinkel zuckten. Auf welche Weise strafte man ein schlimmes Vergehen an Bord der Baroque? Wie konnte überhaupt er, der unbescholtene Gärtner-Novize, zu einem Schwerverbrecher werden. Er begann, zu kichern. Gleichzeitig drangen Tränen aus seinen Augen. Pierre schlug die Hände vor das Gesicht. Er wollte nicht, dass es schon endete. Er wollte nur zurück nach Hause und alles vergessen, was sich hier unten zugetragen hatte.


BaroqueWhere stories live. Discover now