Fluchtplan

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Pierre blieb nichts anderes übrig, als sich mit ihrer neuen Situation abzufinden. Mit der Zeit verzichtete er darauf, Eugene Vorwürfe zu machen, und widmete sich seiner aufgezwungenen Aufgabe. Die Wochen in der Bruthütte hatten Eugene ohnehin sehr still werden lassen. Er hielt sich aus den Gesprächen der beiden anderen heraus und kümmerte sich beinahe hingebungsvoll um die Larven. Das Einzige, was Pierre verriet, dass sein Freund noch bei Verstand war, waren dessen Augen. Wann immer die Wächter oder Arbeiter die Hütte betraten, lauerte Eugenes Blick zwischen seinem struppigen Bart und den dichten Brauen hervor. Er wartete noch immer auf eine Gelegenheit zur Flucht, auch wenn er es nicht aussprach. An manchen Tagen jedoch flüchtete sich Eugene so sehr in seine Aufgabe, dass er damit begann, den Larven leise Lieder vorzusingen. Lieder, die an Bord der Baroque für die jüngsten der Novizen gespielt wurden, um diese zu beruhigen und an das Leben an Bord zu gewöhnen. Die Melodien weckten in Pierre Erinnerungen an Zeiten, wo er von einem diffusen Heimweh befallen wurde und manchmal nächtelang weinen musste, ehe er endlich vergaß, was er eigentlich so vermisste. Um der Melancholie, die den Liedern innewohnte, zu entfliehen, suchte er mehr und mehr die Nähe Georgs, der seinerseits immer weniger Abneigung gegen die Gesellschaft des Sterns zeigte.

Er deutete auf den Platz neben sich, an der Stelle, wo das Gras von draußen durch die Wand der Hütte wuchs. »Setz dich, Junge. Ich will dir etwas erzählen.« Georg pflückte einen der Halme und kaute darauf herum.

Pierre setzte sich neben ihn. Er sah ihn nicht an, sondern beobachtete Eugene, der eine der Larven in den Armen hielt und wie ein kleines Kind wiegte. »Worum geht es?«

Georg kaute schmatzend, spuckte dann seinen Grashalm aus und räusperte sich. »In den Tagen, ehe man euch hergebracht hat, ist das Dorf dieser Wesen einmal überfallen worden. Vielleicht einen oder zwei Tage nach meiner Ankunft. Ich war schon in dieser Hütte eingesperrt, also weiß ich nicht, wer oder was die Angreifer waren.« Er hob den angekauten Grashalm wieder auf und steckte ihn erneut in den Mund. »Aber irgendwo im Dschungel müssen noch andere Wesen wohnen, die mit diesen hier im Krieg sind. Sie kamen in der Dämmerung und haben einen gewaltigen Radau veranstaltet. Sie haben Feuer gelegt, an die Hütten und teilweise wohl auch an den Dschungel, allerdings hat es nicht viel gebracht. Ganz offensichtlich.«

»Feuer?« Pierre wandte den Kopf.

»Ja. Feuer ist die Schwachstelle dieser Wesen. Sie scheinen Angst davor zu haben, weil sie es nicht nutzen können.«

»Warum machen wir uns das nicht zunutze?«

»Unglücklicherweise gibt es in dieser Hütte nichts, womit man Funken schlagen könnte.«

Eine der Wachen öffnete die Tür, um zwei der Wesen hereinzulassen. Sie trugen jedes einen Eimer und eine Art Schaufel und Besen mit sich.

Pierre, Eugene und Georg wichen an die entfernteste Wand zurück und beobachteten einmal mehr die Reinigung der Hütte.

Die beiden Wesen sammelten sämtlichen Kot in die Eimer, überprüften die Larven auf Verletzungen und klopften die Wand der Hütte ab. Eines hob eine Bürste auf, die Eugene auf dem Boden hatte liegen lassen, und legte sie auf die Truhe bei der Tür. Sobald die Hütte gesäubert war, verließen die Wesen sie wieder und die Wache schloss die Tür hinter ihnen.

Pierre sah sich in der Hütte um. »W müssen wir eigentlich nicht dafür sorgen, dass es hier sauber bleibt?«

Georg zuckte mit den Schultern. »Vielleicht vertrauen sie uns nicht. Vielleicht brauchen sie unsere Scheiße für irgendwas. Was weiß ich.«

Pierre nickte nachdenklich. Er faltete die Arme, wobei er die Hände in die ausgefransten Ärmel seines Gewandes steckte. Er tastete nach dem Paralizator, zog ihn hervor und reichte ihn an Georg. »Wir könnten damit Feuer machen, was meinst du?«

Der Abtrünnige riss die Augen auf. »Wie hast du es geschafft, eines dieser Dinge hier hereinzubringen?«

»Ich hatte ihn bei mir, als wir gefangen wurden. Eugene hat seinen verloren, er wollte sich damit wehren.«

Eugene sah auf. Sein Blick zitterte vor Wut. »Du hast den Paralizator die ganze Zeit bei dir? Weshalb lassen wir uns dann in dieser Hütte gefangenhalten?«

Georg nickte. »Dein Bruder hat Recht. Warum hast du nicht vorher etwas gesagt?«

»Ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war. Du hast die Baroque verraten, weshalb sollte ich dir vertrauen?«

»Weshalb solltest du es jetzt tun?« Georg schüttelte den Kopf. »Aber ja, man kann dieses Ding benutzen, um Feuer zu machen. Wir müssen nur trockene Blätter finden.«

»Was denkst du, wird passieren, wenn es brennt? Ich meine, wir sind in der Hütte.«

Georg grinste. »Sie werden ihre Brut nicht im Stich lassen. Wenn es hier brennt, werden sie zu beschäftigt sein, ihre kleinen Larven in Sicherheit zu bringen und wir können die Zeit nutzen, um zu fliehen.«

»Ihr wollt also doch fliehen?«

Georg und Pierre sahen sich um.

Eugene hatte die Larve zur Seite gelegt, die Arme verschränkt, und kam auf die beiden zu. »Ihr wollt wirklich fliehen? Du und der Abtrünnige?« Sein Blick bohrte sich in den Pierres.

Der schüttelte den Kopf. »Wir haben keine andere Wahl, oder willst du den Rest deines Lebens zwischen diesen Dingern verbringen?«

Eugene legte die Stirn in Falten. »Und ihr glaubt, dass es funktionieren wird?«

Georg nickte.

»Dich habe ich nicht gefragt, Verräter. Was ist deine Meinung, Pierre Estelle?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich will nicht in dieser Hütte sitzen und für den Rest meines Lebens Insektenkinder hüten. Irgendwann will ich zurück auf die Baroque. Oder wenigstens zurück ans Meer.«

»Und wenn der Plan schiefgeht.«

»Er wird nicht schiefgehen, Grünschnabel.« Georg baute sich vor Eugene auf. »Wir müssen nur schnell genug sein.«

»Und wenn sie uns folgen? Wir kennen uns im Dschungel nicht aus.«

»Das ist das erste Mal, dass ich dich etwas Vernünftiges sagen hören.« Pierre seufzte. »Und es ist ein guter Einwand. Finden wir überhaupt zu den Bergen zurück?«

»Das wissen wir erst, wenn wir es versucht haben. Es wird sie einige Zeit kosten, alle Larven zu retten und das Feuer zu löschen. Bis dahin sind wir sicher weit genug von ihrem Dorf entfernt, um uns Gedanken über alles andere zu machen.«

Eugene legte den Kopf schief und betrachtete den Abtrünnigen misstrauisch. »Und du willst uns nicht deiner Flucht opfern? Was ist mit den Büchern?«

»Die werden wir zurücklassen müssen, fürchte ich. Wenn ihr das mit eurer Pflicht vereinbaren könnt, heißt das.«

»Wenn wir ein Opfer mit nach Hause bringen, wird der Papst vielleicht beide Augen zudrücken.« In der Stimme des Sterns schwang ein süßlicher, drohender Unterton mit.

Pierre raffte sich auf und trat zwischen die beiden Anderen, ehe ihr Streit weiter aufkochte. »Im Moment geht es darum, dass wir alle überleben. Vor allem wir, Eugene! Wir müssen mit ihm zusammenarbeiten. Was danach kommt, können wir sehen, wenn wir in Sicherheit sind!«

Georg setzte sich wieder an die Wand der Hütte. Er nickte. »Wenn es dich zu sehr stört, mit mir zusammenzuarbeiten, kannst du gerne zurückbleiben, Eugene Estelle. Meinetwegen kannst du auch deinen Bruder zwingen, zu bleiben. Ich werde fliehen, mit oder ohne deine Erlaubnis.« Er streckte die Hand nach Pierre aus. »Gib mir deinen Elektroschocker.«

Pierre schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Warten wir erst auf die trockenen Blätter.«


BaroqueOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz