Der Tod des Pontifé

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Der Älteste ließ die bedienenden Novizen gerade ein zweites Mal zu sich an den Tisch rufen, als ein hagerer Mann mittleren Alters in den Speisesaal stürzte. Er stolperte gerade rechtzeitig zur Seite, um nicht mit dem Diener des Ältesten zusammenzustoßen, taumelte bis an den Tisch und krallte sich an der Tischplatte fest. Er keuchte so sehr, dass selbst Pierre am anderen Ende der Tafel es hören konnte. Endlich richtete er sich auf. Immer noch hinter Atem berichtete er den Äbten, was er zu berichten hatte, allerdings zu leise, als das die Novizen am Ende des Raumes ihn verstehen konnten.

Der Älteste nickte ihm zu, stand auf und verließ, gefolgt von den anderen Äbten den Raum.

Die meisten der anwesenden Männer beendeten ihre Mahlzeit, nur einige der Novizen schaufelten den restlichen Brei in ihre Münder, um für die bevorstehende Prüfung gewappnet zu sein. Die Mönche maßregelten sie mit ihren Blicke, wovon sich jedoch insbesondere Pierre und Eugene nicht aufhalten ließen. Nach und nach standen alle Mönche auf und warteten auf die Rückkehr der Äbte, einige der Männer fielen erneut in den Singsang des Kantors mit ein.

Pierre trat von einem Fuß auf den anderen. Eigentlich hätten die Novizen am Ende des Abendessens mit dem Ältesten in einer Prozession zur Kapelle ziehen sollen. Zwölf Stunden in Meditation und Gebet zu verbringen, waren anstrengend und egal, was vorgefallen war, sie würden ihnen diese Prüfung sicher nicht ersparen. Ein kurzer Blick zu Eugene verriet Pierre, dass sein Freund ähnliche Befürchtungen hegen musste, wenn auch verborgen unter der neugierigen Maske, durch die er die Ausgangstür im Blick hielt.

„Nicht starren!"

Eugene wandte den Kopf zu seinem Freund um. Er grinste über das ganze Gesicht und deutete mit der Hand auf die anderen Mönche und Novizen. Jeder von ihnen hielt, mehr oder minder auffällig, die Tür im Blick.

Pierre seufzte. Sein Freund hatte keinerlei Gefühl für die Situation, in der sie sich befanden. Vielleicht waren ihm die Konsequenzen eines Regelverstoßes auch egal. Pierre dagegen zwang sich, den Blick auf den Teller vor sich gerichtet zu halten. Weshalb kamen die Novizen nicht abräumen? Weshalb beendete der Kantor sein Dauergebet nicht?

Die Verse und Regeln der Gemeinschaft waberten durch den weitläufigen Saal, brachen sich an den Wänden und bildeten als Echo mit den Worten des Kantors einen eigentümlichen Kanon. Die Fußbodenheizung, die den Speisesaal während des Essens auf einer angenehmen Temperatur hielt, hatte sich bereits abgeschaltet und die Kälte metallenen Wände hinter den Stoffbezügen wehte allmählich die Wärme zu den Ritzen der Tür hinaus.

Endlich flogen die beiden Türflügel auf und die Äbte stürmten in den Raum.

Der Älteste drängte den Kantor vom Lesepult weg, spannte und räusperte sich. Er tauschte einen letzten Blick mit den anderen Äbten, dann sah er auf die anwesenden Männer. „Ich habe eine tragische und für einige von euch zugleich hoffnungsvolle Nachricht zu verkünden. Unser geliebter Vater und Bruder, Armaud Pontifé ist von uns gegangen. Es ist nun an der Zeit, einen neuen Vertreter der Sonne für seine Zeit auf dem Gestein auszuwählen. Auf wen auch immer unsere Wahl fallen wird, die Sonne muss zwei Sterne mit sich nehmen, die ihn auf dem Gestein unterstützen. Deshalb wird die Prüfung der Novizen in dieser Nacht länger andauern. Diejenigen von euch jungen Männern, die den stärksten Willen aufweisen, der allmächtigen Baroque zu dienen, werden die neue Sonne auf das Gestein begleiten."

Für einige Augenblicke war es so still, dass Pierre den leisen Wind hören konnte, der von den Wänden her wehte. Dann erhob sich Gemurmel, erst unter den Novizen, schließlich unter den Mönchen.

Einer der Männer, der weit oben am Tisch in der Nähe der Plätze der Äbte stand, wagte es schließlich, eine Frage an den Ältesten zu stellen. „Sagt, Deniel Abbé, was ist mit George Inquisiteur? Weshalb ist er nicht hier, um uns diese Nachricht zu überbringen?"

Der Älteste kaute auf seiner Unterlippe und schwieg. Auch die anderen Äbte zögerten sichtlich, eine Antwort zu geben.

Andere Mönche schlossen sich der Frage an, das Gemurmel wurde immer lauter, bis Deniel schließlich die Hände hob und Schweigen gebot. Augenblicklich verstummten die Forderungen.

Der Älteste schloss die Augen. „Unser Bruder George ist auf dem Gestein von den Ketzern angegriffen und verschleppt worden. Er hat es nicht mehr bis zum Gleiter geschafft, so dass der Pilot alleine die Nachricht überbringen musste."

Eugene beugte sich über den Tisch zu Pierre. „Und dann wissen sie sicher, dass der alte Pontifé tot ist?"

Pierre zuckte mit den Schultern. Die politischen Dinge der Baroque waren ihm egal, ihn beschäftigte nur die Frage, wie er eine verlängerte Gebetsnacht durchstehen sollte. Oder ob er es überhaupt wollte. Sicher, ein Stern des Pontifé zu werden, würde ihn aus der strikten Hierarchie der Baroque herausholen, aber zu welchem Preis? Auf der anderen Seite konnte er dann das Meer sehen. Aus der Nähe und nicht nur durch die kleinen Bullaugen der Station, von denen viele auch noch gefärbt waren, so dass er nie mit Gewissheit sagen konnte, welche Farbe das Gestein eigentlich besaß.

„Die Novizen schließen sich jetzt den Äbten an. Die Prozession zur Kapelle beginnt in wenigen Augenblicken." Deniel wandte sich an den beinahe doppelt so großen Mann zu seiner linken, der mit demütig gesenktem Kopf dastand. „Kantor, beginne mit dem Exodus!"


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