Märchenprinzessin

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An den langen Winterabenden, wenn alle Spiele gespielt sind, wenn im Fernsehen das Sandmännchen auf Wiedersehen gesagt gewunken hat, wenn die Mutter mahnt, sich „doch langsam auf das Bett" vorzubereiten, dann wenden die Enkel sichs gerne dem Großvater zu.

„Opa , erzählst Du uns noch eine Geschichte?"

Und der noch gar nicht ganz so alte Stadtrat Wendelin Äpfelbauer legt dann seufzend den Wochenendteil seiner Heimatzeitung beiseite - die Spielvereinigung Tyggenburg leidet unter erheblichen Verletzungspech – er faltet die Hände, wirft der Mutter einen klagenden Blick zu, und fragt: „Was soll ich denn erzählen?"

„Na, eine Geschichte", sagt die Enkelschar, denn es ist jedes Wochenende dasselbe mit ihm.

Äpfelbauer betrachtet also seine langen schmalen Hände und setzt eine verdrießliche Miene auf. Auch das zählt zum Ritual, denn eigentlich freut er sich auf seine Aufgabe und die Aufmerksamkeit, die ihm so plötzlich zuteil wird.

Und er sagt:

„Eine Geschichte aus Tyggenburg?"

„Ja", ruft ungeduldig das Enkel-Kollektiv. Denn in der merkwürdigen Stadt Tyggenburg sind die Dinge anders als anderswo.

Äpfelbauer hebt an:

„Vielleicht erzähle ich Euch die Geschichte von der kleinen Christina. An die kleine Christina erinnert ihr Euch doch wohl? Christina ist das Mädchen mit dem langen blonden Haar und den ein bißchen grünen vergnügten Augen. Und sie ist vielleicht das einzige kleine Mädchen in der Stadt, dem einst ein Märchenprinz begegnet ist. Eigentlich ist er ihr damals gar nicht richtig begegnet. Der Märchenprinz ist vielmehr an ihr vorbei gefahren. Christina ist nämlich die Tochter des Gastwirtes vom „Weinfaß". Sie sah damals aus der Wirtstube hinaus in das weihnachtliche Schneetreiben auf die Straße und dort hatte sie ihn erblickt. Eine große goldene Kutsche fuhr vorbei, gezogen von sechs weißen Schimmeln. Auf dem Kutschbock saßen der Kutscher und gleich zwei goldbetreßte Diener und drinnen, ja drinnen in der Kutsche, da saß der Märchenprinz. Wißt ihr, es war ein Mächenprinz, wie man ihn sich vorstellt - mit goldgelockten Haar, mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen, und mit manikürten Händen, die Christina im Vorbeifahren zuwinkten. Und der Märchenprinz hatte ihr damals nicht nur gewinkt, nein, er hatte sie sogar mit einem langen Blick aus seinen großen dunklen Augen angesehen, sehr groß und bedeutsam. Komm auf mein Schloß, schien dieser Blick zu sagen, komm und folge mir. Dann war der Märchenprinz davon gefahren und Christina hatte ihm nachgesehen, bis er von der Alten Gasse auf den Museumplatz des steinernen Löwen abgebogen war.

So erinnert sich Christina.

Und sie sitzt so manche Nacht am Fenster ihres kleinen dunklen Zimmers, guckt gemeinsam mit dem Stoffclown auf die nachtschwarze Straße und hofft, wieder das Klingelspiel der großen goldenen Kutsche zu hören. Vielleicht würde der Märchenprinz sogar vor ihrer Tür halten, energisch um Einlaß bitten und ihren ewig brummeligen Vater fragen, ob er Christina nicht auf sein Schloß mitnehmen könne.

Christina pflegt bei diesem Gedanken immer tief zu seufzen, und der Stoffclown seufzt dann immer mit. Denn auch Stoffclowns haben Träume.

Im Kindergarten sehen die Kinder die Dinge freilich anders.

„Märchenprinzen gibt es nicht", verkündet die blöde Iris, deren Vater Medizin- Professor oder professoraler Mediziner war, und die daher bestens über alles und jeden Bescheid weiß. „Ich jedenfalls will Stewardess werden."

„Was ist ein Märchenprinz", fragte der dicke Tobias, der sich eigentlich nur für sein feuerrotes Fußballtrikot interessiert, es sei denn er bekämpft gerade gruselige Aliens auf dem Planeten Trammapats.

Tyggenburg - Geschichten aus AnderswoWhere stories live. Discover now