Christkind

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Rohrbach macht einen kleinen Test. Er schaltet das Wohnzimmerlicht aus und steckt den Stecker für die elektrischen Weihnachtskerzen in die Dose. Der Baum erstrahlt sofort in einem recht kalt wirkenden Licht. Fast ein bisschen zu hell, findet Rohrbach. Kann man die Kerzen vielleicht ein wenig herunterdimmen?

Man kann es nicht. Der Drehschalter an der Wand neben der Tür bedient ausschließlich die Wohnzimmerlampe. Zu dumm, und ein paar Lampen abmontieren funktioniert auch nicht. Die Wohnzimmerkerzen sind nämlich in Reihe geschaltet, entweder alle oder keine, so lautet das ernüchternde Fazit der Gebrauchsanleitung.

Rohrbach senkt den Zettel. Dann eben nicht.

Er sieht sich um. Die Lichter am Baum erlauben tiefe nachtdunkle Schatten dort hinter dem Kamin. Eine scharf umrissene Kontrastlinie zwischen hell und dunkel zieht sich durch das Wohnzimmer, ein eigenartiges Zickzack, das säuberlich schwarz und weiß voneinander trennt. Fast wird es Rohrbach unheimlich. Zwei, drei Kerzen fehlen noch, etwa auf dem Beistelltisch neben dem Sofa. Das würde die heimelige Stimmung noch etwas mehr betonen. Rohrbach sieht auf seine Uhr, noch eine Stunde Zeit bis zur Bescherung, kein Problem.

Er zieht eine Gardine beiseite und späht kurz hinaus. Draußen ist alles dunkel, natürlich. Ein paar Sterne am Himmel versuchen sich gegen die tiefhängenden Wolken durchzusetzen. Die dünne Schneeschicht bedeckt den Rasen nur notdürftig. Rohrbach presst die Nase an die Scheibe, seine Haut spürt eine kleine Kälte. Vereinzelt segeln kleine Schneeflocken vorbei. An der Einfahrt schräg gegenüber signalisiert die aufdringliche Beleuchtung eines Vogelbeerbaumes ausgelassene Weihnachtsstimmung. Trinkhaus natürlich, dieser aufgeblasene Witzbold.

Rohrbach richtet sich seufzend auf. Die letzten stillen Minuten, bevor der Trubel beginnt: und dann würde alles wieder ganz schnell vorbei sein. Den stillen Moment jetzt, den würde er gerne für die Ewigkeit festhalten.

Er hört Martha in der Küche rumoren. Sie holt wohl gerade den Hackbraten aus der Röhre. Schon wieder Hackbraten: Die Kinder mögen ihn nicht, er mag ihn auch nicht und sogar Martha hat diesen Sommer in einem schwachen Moment gestanden, dass Hackbraten eigentlich nur die Leibsspeise ihres verstorbenen Großvaters gewesen ist. Dennoch gibt es seit Menschengedenken bei Rohrbachs Hackbraten zu Weihnachten und auch heute bleibt es dabei. Tradition, sagt Martha.

Rohrbach richtet eine leicht schief hängende elektrische Kerze am unteren Ast wieder gerade. Dann blickt er seufzend auf das Dutzend bunter Glaskugeln, die noch im Karton verpackt sind. Jedes Jahr dieselbe Frage, aufhängen oder eben nicht? Natürlich kommen sie an den Baum, ermahnt er sich, sonst würden die Kinder traurig sein.

Der Weihnachtsbaum wirft immer noch sein glänzendes Licht und Rohrbach fällt ein, dass er zum weiteren Schmücken doch lieber die Deckenlampe einschalten sollte.

In diesem Augenblick ertönt ein leises melodisches Klingeln im Raum, so als ob ein Dutzend kleiner Glöckchen gleichzeitig anschlagen. Ein kleine Gestalt erscheint in der Luft. Sie schwebt, ein kleines Kind, eigentlich mehr ein pausbackiger Engel mit goldenen Haaren und einem Paar hauchzarten Flügeln auf dem Rücken, die flirren wie ein Kolibri. Zwei strahlend blaue Augen umrahmen ein freundlich lächelndes Gesicht: Auf dem Kopf thront ein kleiner Goldreif. Die Gestalt verharrt mitten im Zimmer, so etwa in der Nähe der Deckenlampe.

Rohrbach fällt auf, dass jetzt ein zweiter Lichtpunkt im Zimmer ist. Das Christkind strahlt von innen her, wirft ein ringförmiges Licht, aber freundlicher, irgendwie harmonischer als das des Weihnachtsbaumes. Nur der goldene Ring gleißt ein wenig.

In Tyggenburg, jener Stadt nahe den nördlichen Wäldern, gehen die Uhren anders.

„Zu früh", knurrt Rohrbach. „Wir bescheren erst in einer Stunde."

Tyggenburg - Geschichten aus AnderswoWhere stories live. Discover now