Dschinn

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Dschinn

Las sich eigentlich ganz interessant, der Artikel im Tyggenburger Tagblatt. Lester ließ für einen kurzen Moment die Zeitung auf den Frühstückstisch sinken und starrte nachdenklich aus dem Fenster auf die Backsteinmauer gegenüber. Arabien – wann hatte er doch gleich mit seiner damaligen Verlobten Urlaub in Dubai gemacht?

Es hatte ihnen beiden gut gefallen damals. Dass ihre Beziehung hinterher sich doch nicht wie erwartet entwickelt hatte – eher im Gegenteil – war keinesfalls dem gemeinsamen Aufenthalt am arabischen Golf anzulasten.

Die Stadt Tyggenburg und das Sultanat Sowieso – es folgten eine Menge „al's und „ab's", jeweils verbunden durch Bindestriche und unterbrochen von diversen Apostrophen – würden ihren Kulturaustausch intensivieren, meldete das Tagblatt. Dazu fand sich ein Interview mit Dr. Gundula Gelmeier-Regenbogen, verantwortliche Kulturdezernentin und Angehörige der ökologisch-sozial ausgerichteten Minderheitsfraktion, die sich in längeren Sätzen über die Notwendigkeit gegenseitigen kulturellen Verständnisses im Allgemeinen, sowie dem Abendland und Morgenland im Speziellen erging. Nach all den Jahrhunderten der Kreuzzüge und des waffenbewehrten Nebeneinanders müsse man näher zusammenrücken, voneinander lernen, usw. usw.

Dazu begab sich die Stadt für einen Woche in Tausend und eine Nacht. Man veranstaltete Kamelrennen auf der Trabrennbahn, arabische Gesangsdarbietungen im Stadttheater, Schleiertänze in der Disko, die „faszinierende Küche des Orient (ohne Schweinefleisch!)" in der Volkshochschule, Märchen gelesen von Aladdin in der Kinderbücherausleihe. Intellektuell ausgerichtete Gemüter diskutierten derweil die Rolle der Moderne in der arabischen Welt oder die verheerenden Folgen des Kolonialismus und Amerikanismus in der Universität (bitte pünktliches Erscheinen, weil wir vorher noch den Film des kritischen arabischen Autors und Dissidenten - es folgten eine Menge „al's und „ab's", jeweils verbunden durch Bindestriche und unterbrochen von diversen Apostrophen, - zeigen wollen. Der Filmer ist anweswo unsere Verantwortung liegt - im Jugendzentrum Tyggenburg Süd. (Kein alkoholischen Getränke!)

Lester würde dort nicht erscheinen, er hatte etwas ganz anderes entdeckt, ganz am Ende: Arabische Nächte in den Tyggenburg-Thermen.

Er klopfte mit den Fingern sanft gegen die Kaffeetasse. „Arabische Nächte in den Thermen?" Das wäre doch was.

Lester stand nicht allein. Zwei Tage später fand er sich in einer langen Schlange vor leider unterbesetzten Schaltern. Die Erwartungen waren hoch und sie wurden schon mal nicht enttäuscht. Das Personal, sonst eher züchtig in zugezogene braungraue Bademäntel gehüllt, zeigte sich erfreulich ansehnlich in Schleier und Bikini. Was vielleicht nicht jeder gut stand, der Dame an der Kasse aber auf in jedem Fall.

Lester, nach dem Desaster mit der Dubai-Beziehung ohnehin solo, lächelte die Blondine verwegen an. „Bis zum Schluss bitte – einmal. Was empfehlen Sie mir besonders?".

Die Blondine hob nur kurz den Kopf von ihrem Terminal. „Probieren sie alles einmal durch".

„Aha. Und wo finde ich Sie?"

„An der Kasse."

Nun, das lief doch gar nicht so schlecht. Lester eroberte leichten Schrittes die neue arabesque Welt. Die Tyggenburger Therme hatte mottogerecht keine Mühe gescheut, sich in die Welt des mittelalterlichen Bagdad zu versetzen. Schleier und Vorhänge bedeckten sonst so nüchterne Steinfassaden. Sanfte arabische Musikklänge schwebten durch die Räume, da und dort unterlegt mit Gerüchen nach Patschuli oder Myrrhe. Im Aufenthaltsraum neben dem Dampfbad probten verschleierte Tänzerinnen den diskreten Bauchtanz zu den Rhythmen von zwei halbnackten Trommlern im sparsamen Bidet. Die Bar im Aussenschwimmbecken, pittoresk mit Minaret bedeckt, servierte Feigendrinks und den Desertburner. Schilder versprachen diverse Aufgüsse und sanfte Massagen aus dem Land der Wüste („bitte unbedingt an der Kasse reservieren").

Tyggenburg - Geschichten aus AnderswoDove le storie prendono vita. Scoprilo ora