Heinzelmänner

2 0 0
                                    


Vielleicht wäre alles anders gekommen. Vielleicht hätte Jahre hinaus alles vermieden werden können. Mag sein, dass vielleicht gar nichts geschehen wäre.

Aber dann entließ der Supermarkt AllesImLeben, gelegen im Südberg Viertel, mit einem Schlag sein gesamtes Reinigungspersonal.

Am folgenden Tag zogen Dutzende Frauen – gekleidet mit Kopftüchern und in den graugrünen Overalls der Hausbesorger Gesellschaft Kimmelmeier und Söhne sowie ausgerüstet mit Wischern und Putzeimern - durch die Tyggenburger Innenstadt. Dass sie dabei die Wischer rhythmisch gegen die Putzeimer schlugen und laute Parolen skandierten, machte den Umzug nicht unauffälliger. Der Marsch endete vor dem Rathaus und mit einigen Vorträgen, in denen sehr viel von Recht auf Arbeit, von Profitgier auf den Rücken der sozial Schwächsten und von einer tatenlos zusehenden Politik die Rede war.

Die Politik stand derweil oben im dritten Stock und betrachtete den Vorgang.

Rückwirth war der Stadtkämmerer, Angehöriger der Mehrheitsfraktion und damit einer Partei, deren öffentlich propagierter sozialer Gerechtigkeitssinn ein pauschales Ignorieren der unten gerufenen Forderungen leider verbot.

„Hast Du das kommen sehen?" fragte er Brauner, den Fraktionsvorsitzenden, der neben ihm stand. Brauner war untersetzt, versuchte mit dem verbliebenen Haupthaar seine beginnende Glatze zu kaschieren und schlug mit dem Finger einen Trommelwirbel auf der Fensterbank.

„Nein."

„Und was jetzt?"

„Jetzt gehe ich runter und erkläre, dass wir alles im Griff haben."

Brauner mochte in seiner Erscheinung eher Durchschnitt sein, rhetorisches Talent konnte ihm aber niemand absprechen. Er brüllte und gestikulierte, schnaufte und schwitzte und am Ende klatschten alle dankbar Beifall. Ein oder zwei Putzfrauen umarmten ihn sogar.

Alles in allem war es eine gute Rede gewesen. Die Menge zerstreute sich. Am nächsten Tag setzte es Lob in der Lokalpresse, die gerne derselben Auffassung von Gerechtigkeit huldigte wie die Mehrheitsfraktion.

Doch dann gabe es noch dieses Interview mit Gertrude Kimmelmeier, geschäftsführende Gesellschafterin von Kimmelmeier und Söhne. Wobei weder Söhne im Unternehmen vorhanden waren noch ausreichende Rücklagen. Daher und angesichts des Umstandes, dass mit AllesImLeben einer der größten Aufträge verlustig gegangen war, müsse Kimmelmeier und Söhne leider leider personell abbauen, bekannte die Dame. Das sei bedauerlich und ein ernstes Signal, dass in unserer Gesellschaft irgendetwas gewaltig schief laufe. Fairness sei mittlerweile ein Fremdwort im Umgang miteinander usw usw. Dazu gab es ein Bild von Gertrude, in dem sie mit traurig gefaltetem Doppelkinn umgeben von grimmigen Mitgliedern der Putzkolonne, in die Kamera blickte.

„Unglaublich. Was hast Du Dir dabei gedacht?", brüllte Rückwirth Erwin Diegel-Heller an, als dieser endlich in seinem Büro angekommen war. Dann warf er das Tyggenburger Tagblatt samt Interview auf den Besprechungstisch.

Diegel-Heller befühlte kurz seinen tadellos sitzenden dunkelblauen Krawattenkonten und strich sich über das markante Kinn.

„Das war eine völlig normale geschäftliche Entscheidung."

Rückwirth starrte seinen Gegenüber an. Der Leiter des Supermarktes AllesImLeben hatte um die Hüften ein wenig zugelegt, vermerkte er im Stillen. Wohl die Folge eines permanenten Preisdumpings in eigener Sache.

Diegel-Heller wand sich in seinem Stuhl.

„ Weißt Du, was mich die Kimmelmeier jährlich kostet? Rund..."

„Ich weiß nur, dass Du gerade 50 Leute rausgesetzt hast", fauchte Rückwirth. „Prekariatsarbeitsplätze. Ungelernte, Ausländer, Halbanalfabeten. Die fallen doch sofort ins soziale Netz. Kein Arbeitsamt bekommt die weg."

Tyggenburg - Geschichten aus AnderswoWhere stories live. Discover now