Sinfonie der gelben Krokodile

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Knoll war jemand, der mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Und so wunderte er sich kein bisschen, als man ihm meldete, dass sich in der Bahnhofshalle gelbe Krokodile befänden.

„Wo?" fragte er bloß.

„In der Bahnhofshalle" sagte zitternd der Bote, ein Männchen, dass nur noch durch seinen Monteuranzug aufrecht gehalten wurde.

Knoll nahm seine Dienstmütze, blickte bedauernd auf das nackte Mädchen des Magazins, das er gerade betrachtet hatte und erhob sich seufzend.

In der Bahnhofshalle befanden sich tatsächlich gelbe Krokodile. Es waren etwa fünfzig und sie lümmelten sich am Boden und auf den Bänken, knabberten an der neuesten Ausgabe des Tyggenburger Sonntagsblattes und schnappten nach den Hosenbeinen der Touristen. Es handelte sich um große, lange Tiere. Knoll erinnerte sich, solche schon einmal im Fernsehen gesehen zu haben.

„Das sind Leistenkrokodile" erklärte er gewichtig.

„So", befand ängstlich der Bote, der hinter ihm in Deckung gegangen war.

„Sie kommen am Nil vor" fügte Knoll hinzu.

Knolls zoologische Kenntnisse schienen den Boten nicht weiter zu beeindrucken. Er verbarg sich schweigend hinter dem breiten Rücken von Knolls Uniformjacke.

Inzwischen brach die Panik aus. Frauen kletterten auf Bänke und schrien aus Leibeskräften, schwangen Taschen und Regenschirme, um sich die Krokodile von Leibe zu halten. Die Rollläden der Geschäfte gingen herunter, um die Auslagen zu schützen. Eine Sirene heulte. Der dicke Besitzer des Tabakladens kämpfte mit Teilen der Registrierkasse gegen eine Rotte von Krokodilen, die sich für sein Sortiment zu interessieren schien.

Knoll betrachtete interessiert den langsamen taktischen Rückzug des Tabakwarenhändlers und wunderte sich insgeheim über die Krokodile, die trotz der überhöhten Preise energisch Einlass verlangten.

Ein Mann stolperte gegen ihn.

„Überall Krokodile" brüllte er. „Gelbe! Sind Sie der Stationsvorsteher?" „Ja", sagte Knoll. „Dann tun Sie etwas. Rufen Sie die Polizei."

Ein dickes gelbes Krokodil in der Nähe riss seinen Rachen auf und der Mann verschwand. Knoll blinzelte dem Krokodil dankbar zu. Das Krokodil klappte sein Maul wieder zu und blinzelte zurück. Freundlich, dachte Knoll, zumindest glaube ich, dass es freundlich zurück geblinzelt hat. Man müsste sich eben besser verständigen können.

In der Halle bildeten sich zunehmen Inseln voller Menschen auf den Sitzbänken. Die Krokodilen betrachteten sie interessiert.

Der Boden war von Brillen, Taschen, Regenschirmen und zerrissenen Kleidungsstücken bedeckt. Nur Knoll stand noch allein in der Mitte der Halle. Er stellte fest, dass ihn der zitternde Bote verlassen hatte. Er bückte sich und hob ein zerfetztes Notenblatt auf, das zertreten und verschmutzt am Boden lag.

„Tam Tam" machte Knoll und fuchtelte mit den Armen im Takt. „Tam Tam".

„He Sie" rief eine Frau von der nächstgelegenen Insel herüber. „Gehören die Krokodile Ihnen?"

„Nein" rief Knoll zurück. „Ich bin der Stationsvorsteher."

„Dann tun Sie etwas."

„Tam Tam," machte Knoll wieder. „Tam Tam".

Er schloss die Augen. „Meine Damen und Herren" verkündete der Ansager „Die Sinfonie der gelben Krokodile".

Beifall prasselte auf, als Knoll an das Podest trat. Zwei kurze Schläge mit dem Taktstock auf das Pult und dann setzten die Streicher rhythmisch ein. Tam, Tam, Tam, Tam.

Tyggenburg - Geschichten aus AnderswoWhere stories live. Discover now