Märchenkönigin

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Und dann war da noch die Geschichte mit dem Hauptbuch. Müde von der vergangenen Nacht - und zugegebenermaßen auch ein wenig verkatert - hatte er natürlich nicht zugehört. Äpfelbauer hatte einfach weiter gesprochen, seinem von einem kurzgeschnittenen grauen Bart umrandeten Mund entströmte ein schier endlose Reihung von Wörtern und Zahlen, ohne sonderliche Betonung endlos aneinander gemurmelt. Und er hatte jetzt das entscheidende Detail verpasst. Schlimmer noch, er ahnte, es verpasst zu haben, war sich aber nicht sicher.

„Verzeihung. Das Hauptbuch?"

Äpfelbauer blickte ihn an, ärgerlich über die Unterbrechung. Noch so ein Ahnungsloser von der Opposition, den das Glück und die Ahnungslosigkeit der Wähler in das Amt des Kämmerers gespült hatte. Wieder einer, den er die kommenden vier Jahre überstehen musste, wenn der schmale Idealist da vor ihm überhaupt solange durchhielt. Der Vorgänger hatte nach nur zwei Jahren das Handtuch geworfen.

Äpfelbauer gestattete sich ein inneres Lächeln. Natürlich hatte er das.

Er kannte diesen Blick. Der Finanzbeamte hielt ihn natürlich für einen Aufsteiger, einen politischen Karrieristen, in der Finanzverwaltung auf der Durchreise zur höheren Weihen. Er hatte sich nicht um dieses Amt gedrängt, keiner in der Partei hatte es, aber er hatte das Drängen des Parteivorsitzenden und jetzigen neuen Bürgermeisters akzeptiert. Du musst es machen, ich brauche einen Vertrauten im Finanzbereich..". Langsam verstand er den Grund. Der leitende Abteilungsleiter der Finanzabteilung Äpfelbauer gehört hier zum Inventar wie dort drüben der Schreibtisch, ein sachliches Kunstwerk aus Glas und Chrom. Und es war egal. Wer als Kämmerer im Stadtrat sass. Sie kamen und gingen, so einer wie Äpfelbauer blieb.

Aber der sollte sich nur nicht täuschen. Er würde vielleicht nicht für immer bleiben.

Aber er würde Spuren hinterlassen. Am Besten fing er gleich mal damit an.

Er legte eine gewisse Schärfe in seine Stimme: „Das Hauptbuch?"

Äpfelbauer nickte. „Natürlich. Sie sollten einen Blick hinein werfen."

„Ich dachte, unserer gesamte Finanzverwaltung ist computergestützt. Wer führt denn bitte heute noch handschriftlich Hauptbücher?"

Äpfelbauer kratzte sich den kurzgeschnittenen grauen Bart und wirkte auf einmal ein wenig unsicher. „Das Hauptbuch dient nicht der Finanzverwaltung. Es ergänzt sozusagen unsere Vermögensverwaltung. In diesem Sinne wird es auch nicht geführt."

Er war verwirrt. Von diesem Hauptbuch war in den Sitzungen des Finanzauschuss des Stadtrates nie die Rede gewesen. Auch die Vermögensverwaltung der Stadt, einen beklagenswert überschaubare Angelegenheit, war lediglich ein Konstrukt endloser Exceltabellen und Computerausdrucke. Kein Buchprüfer hätte etwas anderes akzeptiert.

„Verstehe ich nicht."

„Ich zeige es Ihnen."

Sie durchschritten sein neues Büro mit den großen gotisch geschnittenen Fenstern, die auf den Rathausplatz blickten. Hinter seinem Schreibtisch befand sich eine schmale Tapetentür, gleich neben dem Gemälde, das den Stadtgründer bei der Errichtung des Blauen Tores zeigte. Die Tür war schwer zu erkennen, sie war nahezu perfekt in die weiße Wand eingepasst. Nur ein kleiner dunkler Strich ließ erkennten, dass hier die Fläche unterbrochen war. Er stutzte. Sooft er in diesem Büro schon gewesen war, diese Tür war ihm nie aufgefallen.

„War diese Tür schon immer da?

„HmHm", machte Äpfelbauer.

Der Beamte hatte plötzlich einen kleinen nickligen Schlüssel in der Hand. Die Tür schwang lautlos zurück und er stand plötzlich in einem fensterlosen Raum. An der schmalen Stirnseite stand ein Schreibtisch, eine weiße Holzplatte auf einem Metallgestell. An der Wandseite befand sich eine Liege, darauf eine aufgeschlagene Bettdecke.

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